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Morgen Französisch,

Ein Erfahrungsbericht aus dem Georg-Scholz-Haus der Kultur

 

von Stefan Goeritz

 

 

Die Tür zum Schulhof klemmt ein wenig und lässt sich nur mit einem kleinen, von einem kurzen Quietschen in mittlerer Lage begleiteten Ruck öffnen. Ich höre dieses Geräusch sehr gerne, freue mich auf jeden einzelnen von denen, die in dieses Haus kommen. Sie kennen meist ihren Weg, halten ein Schwätzchen untereinander oder mit Lukas, dem Freiwilligen des FSJ Kultur. Danach der Griff zur Gitarre, entweder jemand weiß, woran er arbeiten möchte oder er fragt nach etwas Neuem, einer Idee für ein Stück, nach Noten, nach Hilfe beim Raushören am Computer.

Ich selbst möchte mich nur dann einmischen, wenn ich gefragt oder eingeladen werde. Das schöne am Georg-Scholz-Haus der Kultur: Ich sage nicht „pack doch mal aus“. Ich bin nicht der Initiator des Lernens. Niemand sitzt oder steht neben seinem Instrument und wartet bis ich anfange.

 

So entsteht um 13.00 Uhr ein munteres Geklimper auf einer immer wieder wechselnden Anzahl von Silent-Gitarren. Diese Instrumente sind ja nicht völlig stumm. Eigentlich hört man immer noch sehr genau im Raum, was alles gespielt wird, eine zufällige Mehrstimmigkeit mit unterschiedlich starken Stimmen, die Qualitätsunterschiede im Anschlag sind auch „stumm“ deutlich zu hören. Manchmal frage ich jemanden, ob ich bei ihm zuhören darf und falls ich merke, dass ein Hinweis von mir behilflich sein könnte, frage ich in einer Spielpause, ob ich von mir aus etwas äußern darf. Das gehört zu den Spielregeln: Jeder darf bei jedem zuhören, aber nur wenn man das Einverständnis des oder der Spielenden eingeholt hat. Jeder darf etwas sagen, aber nur wenn der andere zuhören möchte.

 

Es sitzen bei mir gleichzeitig verschieden alte Musiker mit völlig verschiedenen Leistungsstufen und völlig unterschiedlichen musikalischen Interessen. Sie hören sich immer wieder gegenseitig zu, geben sich ab und zu Tipps, unterrichten sich sogar gegenseitig. Drei junge Männer proben für Jugend musiziert, Wertung Zupfensemble. Ein Mädchen ruht sich aus im Café, während ich mit meiner Schülerin deren Unterricht bespreche, den sie einem älteren Mann geben möchte. Ein Junge, der erst seit kurzer Zeit in Deutschland ist, kommt täglich mehrere Stunden, um Musik spielen zu können, die seinen großen Bruder beeindruckt. Eine Schülerin möchte auch nach ihrem Abitur hier weitermusizieren, eine kommt mit einer Freundin, um ihr etwas vorzuspielen. Zwei Viertklässlerinnen arbeiten an ihrem Kompositions-Miniaturenbuch „Tafelkritzeleien.“ Das alles kann an einem Nachmittag gleichzeitig passieren und dies sind meine glücklichen Stunden im Georg-Scholz-Haus der Kultur.

 

Die meisten Schüler kommen aus dem Geschwister-Scholl-Gymnasium nebenan. Ihre individuellen Ziele umfassen viele Teile von Bildungszielen musikalischer Bildung: Von musiktheoretischen Kenntnissen, um eigene Musik, eigene Songs zu schreiben über bandtaugliches Akkordspiel, Songs raushören bis hin zum Interesse an der klassischen Gitarre, Jugend musiziert, Produktion von CDs als Weihnachtsgeschenk für Freunde und Verwandte. Alle diese Schüler sind klug und wunderbar und verlassen das Haus relativ bald nach ihrem Eintreffen mit den Worten: „Ich schreibe morgen Französisch.“

 

Später am Nachmittag kommen dann Schüler, die eine weitere Anfahrt hatten. Manche kommen (auch deshalb) nur ein Mal die Woche, klassische Musikschulsituation… Einige kommen aber auch aus Freiburgs Schulen und bleiben jedes Mal länger als eine Stunde: Manchmal frage ich mich, ob denn wirklich alle „meine“ Schüler auf dem gleichen Planeten wohnen… Einige sind in dieser Zeit auch mit anderen Instrumenten in Berührung gekommen, haben auch angefangen, Klavier zu spielen, weil eben eines herumsteht, haben die E-Gitarre, den E-Bass in die Hand genommen und gehen weiter in diese Richtung. Auch das ist eine schöne Seite dieses Hauses: Schüler müssen sich nicht für mein Instrument entscheiden, damit wir in Kontakt stehen können.

 

Noch nicht sehr entwickelt ist jedoch die Idee, dass Schüler auch Rat bei anderen Fachlehrern suchen, dass diese auch Schülern anderer Instrumentengruppen zuhören, dass Lehrer anfangen, miteinander zu musizieren, dass Schüler verschiedener „Fächer“zusammenfinden. All das passiert zwar hin und wieder, jedoch selten und ohne dass sich daraus die Dynamik entwickeln würde, die ich mir bei der Einrichtung dieses Hauses erhofft hatte.

Das liegt auch daran, dass die „kritische Masse“ von Schülern im Haus wegen der begrenzten Raum- und Unterrichtsangebote noch nicht erreicht werden konnte, die Masse, die gewährleistet, dass zu jeder Zeit interessante Gleichaltrige im Haus sind. Es kann passieren, dass Schüler ins Haus kommen und dort eine Zeit lang alleine mit einem Lehrer sind, das kann schön sein, muss aber nicht…

 

Bei dieser Gelegenheit ist es vielleicht auch interessant zu erwähnen, dass der schon seit der eigenen Schulzeit auf nahezu magische Weise infantilisierende Begriff der „Freistunde“ im Georg-Scholz-Haus nicht mehr existiert. Lehrer können mit dem eigenen Üben auch beschäftigt sein, wenn fünf Schüler um sie herumsitzen, sie haben aber nicht automatisch „frei“, wenn ein bestimmter Schüler absagt. Es kann jederzeit sein, dass zur gleichen Zeit andere da sind, manche sind richtiggehende „Unterrichtsstaubsauger“, üben, haben Fragen, so wird in einem stetigen Prozess Unterrichtszeit dahin verteilt, wo sie gewünscht und daher wichtig ist.

Manchmal komme ich auch mit Schülern ins Gespräch über die Exponate der Galerie, meist Bilder, seltener Objekte. Da es sich stets um zeitgenössische Kunst handelt, beginnen viele dieser Gespräche mit der Frage: „Was soll den das sein?“ oder mit der klassischen Feststellung: „Das hätte ich auch oder gar besser gekonnt.“ Natürlich ermutige ich meine Gesprächspartner, es doch tatsächlich zu probieren, immerhin sind auf diese Weise schon drei Bilder entstanden…

 

Das Georg-Scholz-Haus der Kultur ist ein schöner Ort, ein wichtiger Ort dazu für mich persönlich, denn er hat dazu beigetragen, meine eigene Freude an der Musik und am Musizieren nach mittlerweile über 20 Jahren Unterricht an Musikschulen wieder so neu zu entdecken, als hätte ich gerade mein Studium beendet. Aber auch hier gibt es keine Wunder, auch hier sind wir nicht „in eine bess’re Welt entrückt“. Auch hier haben wir es mit Kindern und Jugendlichen zu tun, die daran gewöhnt sind, die Verantwortung für ihre Bildung konsequent abzugeben, die gewöhnt sind, dort die meiste Zeit zu investieren, wo der größte Druck herkommt aber nicht ihr größtes Interesse wohnt. Die daran gewöhnt sind, gute Zensuren herbeizutricksen ohne sich in irgendeiner Weise dem damit verbundenen Lerngegenstand genähert zu haben weil sie gar keine Idee davon entwickeln konnten, was der mit ihrem Leben zu tun haben könnte.

 

Obwohl es eine großartige, moderne, vielseitige Schule ist, verkörpert das Geschwister-Scholl-Gymnasium nebenan eine andere, übermächtige Bildungswelt. Der Rektor ist selbst ein sehr guter und passionierter Musiker, unsere Zusammenarbeit war von Beginn an hervorragend. Trotzdem fragten Lehrer der Schule bei einer öffentlichen Versammlung, was denn in diesem Georg-Scholz-Haus eigentlich drin sei. Wussten etwa nicht einmal alle Kunst- und Musiklehrer, dass auf ihrem Schulhof seit 1981 eine wichtige Galerie für zeitgenössische Kunst beheimatet ist, seit 2013 ein musikpädagogisches Pilotprojekt? Wie sollten wir dann von Schülern verlangen, zu erkennen, dass Bildung nicht in einer Parallelwelt sondern ausschließlich im eigenen, „wirklichen“ Leben stattfindet? Wenn sogar eine Schülerin aus dem Freiburger Wentzinger-Gymnasium, einer Schule, an der Musik als Hauptfach gelehrt wird (der so genannte Musik-Zug), gegen den von ihr und ihren Eltern mehrfach geäußerten Wunsch und Willen gezwungen wird, Volleyball zu spielen, so dass sie sich dann eine Woche vor „Jugend musiziert“ die Hand bricht, dann müssen wir vielmehr erkennen, dass wir mit unserem Bildungsansatz eben wirklich auf einem andern Planeten leben.

Aber auf einem schönen. Und das nicht allein.

Dort sprechen wir vielleicht oder werden sogar, aber wir schreiben nicht und vergessen dann gleich wieder:

 

Morgen (F)französisch.