Diesen Beitrag teilen:

Wohin mit dem musikalischen Erbe?

Über die Unmöglichkeit der Verwaltung des Unverwaltbaren

lebendiger Kunst

 

von Andreas Doerne

 

 

Unsere klassische Musikkultur ist ausgezehrt und verbraucht. Weitgehend gereinigt von zeitgenössischen Einflüssen und gefangen in zwanghafter Reproduktion historischer Werke ist sie zu einer musealen Pseudokultur verkommen. Weil Schönheit zum Fetisch erhoben und die Loslösung vom alltäglichen Leben zum Standard gemacht wurde, hat klassische Musik ihre aufrührende, verändernde, bewusstseinsbildende Kraft verloren. Diese Kraft jedoch ist Kunst wesenhaft eingeschrieben. Sie ist ursächlich verantwortlich dafür, dass Kunst eine Angelegenheit von existenzieller Wichtigkeit für den Menschen ist, und nicht bloß eine nette, aber eigentlich entbehrliche Verzierung.

Diese alarmierende Analyse unseres Musiklebens hat Nicolaus Harnoncourt in seiner vor über 30 Jahren entstandenen Sammlung von Essays „Musik als Klangrede“ formuliert.[1] An seine nach wie vor aktuellen, für die Zukunft unserer Musikkultur wichtigen Gedanken knüpfe ich hier an.

 

 

Harnoncourts Bestandaufnahme geht noch weiter. Er konstatiert ein fundamentales Unverständnis der klassischen Musik (vor allem jener um und vor 1800) sowohl bei den Interpreten als auch beim Publikum, die – beide mit historischer Blindheit beschlagen – so ein einziges großes Missverständnis erzeugen, wenn sie Musik aus der Vergangenheit aufführen. Gleichzeitig betont Harnoncourt, dass überhaupt nur jene Menschen, die zur selben Zeit der Entstehung einer Musik leben, diese vollständig verstehen können und dass jeder Versuch, die ursprüngliche Wirkungsweise einer Musik durch Rekonstruktion der historischen Aufführungspraxis authentisch zu simulieren, eine Illusion ist. Auch legt er dar, wie die Notation von Musik sich ab dem Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert von einer Werkskizze für umfassend ausgebildete und im zeitgenössischen Stil versiert sich bewegende Musiker (für die eine notierte Andeutung genügt, um zu wissen, was der Komponist meint) zu einer Spielanweisung entwickelt hat, indem immer mehr musikalische Parameter minutiös notiert wurden, weil Komponisten den kompositorisch mitdenkenden Musiker nicht mehr voraussetzen konnten. Dieses sich immer weiter verengende Verständnis einer Partitur als Spielanweisung hat sodann im Laufe der Zeit eine pervertierte Vorstellung von Werktreue hervorgebracht, die davon ausgeht, dass ein Interpret exakt das zu spielen habe, was im Notentext niedergeschrieben steht – nicht mehr und nicht weniger. Gleichzeitig Triebfeder und Symptom dieser Entwicklung ist unsere Hinwendung zur Musik der Vergangenheit. Soweit Harnoncourt.

 

Schuld an dieser Misere, so muss man festhalten, sind allerdings nicht die überlieferten historischen Werke an sich, sondern unser Umgang mit ihnen sowie diese nur schwer zu verstehende zwanghafte Fixierung auf Musik der Vergangenheit. Es scheint zuweilen so, als wäre unsere lange Zeit so überaus vitale Musikkultur mit ihrer einzigartigen, Jahrhunderte andauernden Entwicklungsdynamik, Wandlungsfähigkeit und künstlerischen Innovationslust irgendwann gegen Ende des 19. Jahrhunderts einfach stehengeblieben und in quasi eingefrorenem Zustand über die Zeit bis heute konserviert worden. Alle zu diesem Zeitpunkt bestehenden Teile des Musiklebens – Werke, Ausbildungsinstitutionen, Rezeptionsformen, ästhetische Prämissen und pädagogische Traditionen – sind dabei zu jenem Phänomen geronnen, das wir heute ehrfurchtsvoll als unser musikalisches Erbe bezeichnen. Ein Erbe, das wir mithilfe hoher Subventionen der öffentlichen Hand hegen und pflegen, indem wir Musikschulen und Musikhochschulen unterhalten, historische Schlüsselwerke immer wieder live aufführen bzw. Instrumentalschülern zum Üben aufgeben, didaktisch versierte Musikvermittlung betreiben und bei alldem als Agenten eines schwer dingfest zu machenden aber der klassischen Musik scheinbar eingeschriebenen konservativen Wertekanons fungieren (Stichwort: Disziplin, Fleiß und Genauigkeit).

 

Bei aller zurecht gebotenen Wertschätzung für die im musikalischen Erbe kodierten künstlerischen Leistungen ist uns meiner Ansicht nach jedoch zu wenig bewusst, welch schweren Ballast wir uns mit der Pflege eben jenes mittlerweile erstarrten Erbes aufbürden und zu welch immens hohen Kosten diese Pflege geschieht: dem Verlust einer lebendigen weil in der Gegenwart wurzelnden und sich auf die Gegenwart beziehenden klassischen Musikkultur, die künstlerisch-kreativ, aufrüttelnd, sich einmischend, nicht nur ästhetisch neue Perspektiven entwerfend und so für die Gesellschaft tatsächlich von existenzieller Wichtigkeit ist.[2] Anstatt uns um eine anstrengende, ständig neu zu leistende Verankerung unserer klassischen Musikkultur und ihrer Gewerke in der Gegenwart zu kümmern – uns also um permanente künstlerische, ästhetische und rezeptionsbezogene Veränderung zu bemühen –, machen wir es uns in der Vergangenheit bequem und leben vom künstlerischen Kapital, das vorangegangene Generationen erwirtschaftet haben.

 

Meiner Meinung nach konnte diese Zuwendung zur Alten Musik – womit ich jede Musik meine, die nicht von unseren lebenden Generationen geschaffen wurde – nur durch eine Reihe eklatanter Mißverständnisse erfolgen.“[3]

 

Wollen wir an dieser musikkulturellen Misere grundlegend etwas ändern, sollten wir uns weniger fragen, wie wir unser musikalisches Erbe am geschicktesten vermitteln, also an den Mann, respektive die Frau, respektive das Kind bringen können, sondern uns darüber Gedanken machen, wie wir uns seiner entledigen können. Entledigen nicht, um es gänzlich zu verwerfen, sondern um Platz zu machen für zeitgenössische Musik und eine wirklich zeitgenössische klassische Musikkultur. Denn genau das war es, was in früheren Jahrhunderten eben jenen fruchtbaren kulturellen Humus bildete, auf dem die großartigen Werke unseres musikalischen Erbes überhaupt erst entstehen konnten.

 

Es lassen sich also ungute Nebenwirkungen identifizieren, wenn eine Musikkultur der Beschäftigung mit ihrem musikalischen Erbe übermäßig viel Raum gibt. Zwei dieser Nebenwirkungen erscheinen mir besonders prekär:

  1. Unser Umgang mit dem klassischen musikalischen Erbe verhindert das Zeitgenössische, indem das Historische in den Mittelpunkt gerückt wird.
  2. Unser Umgang mit dem klassischen musikalischen Erbe unterdrückt das Eigene, indem das improvisatorische und kompositorische Erschaffen von Musik vernachlässigt und dafür ein „werktreues“, von subjektiven Zugaben gereinigtes Interpretieren zum monopolartigen Zentrum musikalischen Sich-Äußerns erhoben wird.

 

1. Das Zeitgenössische

 

Selbstverständlich ist Musik nicht zeitlos, sondern zeitgebunden und wie alle kulturellen Äußerungen des Menschen für sein Leben notwendig. Dieses Zusammengehen von Leben und Musik war tausend Jahre lang in der westlichen Musik gegeben, das heißt die Musik war ein wesentlicher Bestandteil des Lebens – und zwar die Musik der jeweiligen Gegenwart.“[4]

 

„Sie war die lebendige Sprache des Unsagbaren, sie konnte nur von den Zeitgenossen verstanden werden. Die Musik veränderte den Menschen – den Hörer aber auch den Musiker. Sie musste immer wieder neu geschaffen werden, so wie die Menschen sich immer wieder neue Häuser bauen mussten – immer wieder der neuen Lebensweise der neuen Geistigkeit entsprechend. So konnte man auch die Alte Musik, die Musik der vergangenen Generationen, nicht mehr verstehen und nicht mehr gebrauchen; man bewunderte gelegentlich ihre hohe Kunstfertigkeit.“[5]

 

Wenn es stimmt, dass Kunst gar nicht anders kann, als Ausdruck und somit Spiegel der geistigen, sozialen und gesellschaftlichen Situation genau jener Zeit zu sein, in der sie entsteht, ist es nur logisch wenn Harnoncourt sagt, dass Werke des musikalischen Erbes für heutige Zeitgenossen nicht zu verstehen sind. Denn dem Hörer fehlt der Bezug der zwar im Augenblick erklingenden, aber in vergangenen Zeiten entstandenen Kunst zur Jetztzeit, zur geistigen, sozialen und gesellschaftlichen Gegenwart – immerhin eine historische Distanz, die oft ein, zwei oder sogar mehrere Jahrhunderte misst. So sehr wir es wollen, wir können heute das Aufrührerische einer Beethoven-Sinfonie nicht mehr hören, höchstens unter Aufwendung von viel historischem Wissen und geistiger Simulation vergangener Zeiten erahnen. Und dies auch nur, wenn wir es mit einer Aufführung zu tun haben, die – um es mit dem dafür entstandenen, etwas ungelenken Fachbegriff zu bezeichnen – historisch informiert ist und diese Informiertheit nicht auffasst als vermeintlich authentische historische Rekonstruktion, sondern als einen mutigen Interpretationsversuch, die in der gespielten Musik kodierten Inhalte für den Hörer der Gegenwart sinnlich nachvollziehbar zu machen.

 

Richtig verstandene historische Aufführungspraxis ist eine Seite von lebendiger Musikkultur. Die andere ist viel naheliegender und auch wichtiger: In Konzerten sowohl an Opern- und Konzerthäusern als auch in Klassenvorspielen an Musikschulen und Musikhochschulen sollte vor allem zeitgenössische Musik gespielt werden. Doch hier besteht ein zentrales Problem. Unser Umgang mit dem klassischen musikalischen Erbe verstopft seit Jahrzehnten die Programme von klassischen Konzerten, weil jene wenigen Werke einiger weniger Komponisten immer und immer wieder gespielt werden, die sich über die Jahrhunderte als „zeitlose“ Meisterwerke erwiesen haben, dem Publikum bestens vertraut sind und entsprechend niemanden verstören. Diese Armut von Konzertprogrammen geht einher mit einer zunehmenden Borniertheit des Hörens sowie einer Tendenz zum Infantilen beim Publikum:

 

Daraus allein, daß wir das Bestreben haben, ein Werk, das wir lieben, oft zu hören, und daß die Menschen früher dieses Bestreben nicht gehabt haben, können wir den wesentlichen Unterschied der Hörgewohnheiten von einst und jetzt erkennen. Ich bin sicher, daß es heute niemanden gibt, der die Werke, die er schon oft gehört hat, nie wieder hören möchte, sondern nur noch neue. Wir sind wie Kinder, die dasselbe Märchen immer wieder hören wollen, weil wir uns an bestimmte Schönheiten erinnern, die wir beim ersten Anhören erlebt haben. Wenn es uns nicht gelingt, uns wieder für das zu interessieren, was wir noch nicht kennen – sei es alt oder neu – […] dann hat das ganze Musizieren keinen Sinn.“[6]

 

Heute ist es zwar durchaus Usus, Stücke aus dem Bereich Neue Musik in klassische Konzertprogramme aufzunehmen. Nur handelt es sich dabei meist um Werke der klassischen Moderne, die ihrerseits bereits als Teil des musikalischen Erbes angesehen werden müssen, und nicht um Musik der Gegenwart. Es scheint zuweilen, als ginge es den Programmgestaltern vor allem darum, mit einem vermeintlich zeitgenössischen Quotenstück kuratorische Fortschrittlichkeit zu demonstrieren. Auch weil der Eindruck nur selten von der Hand zu weisen ist, dass das Publikum diese Programmstörung mehr zähneknirschend als goutierend hinnimmt, nach dem Motto: „Diesen dissonanten Kram muss man halt ertragen, will man heutzutage im Konzert noch schöne Musik hören …“. Fest steht: In einer lebendigen, in Entwicklung befindlichen Musikkultur wird in Konzerten hauptsächlich Musik der Gegenwart gespielt, und zwar nicht weil es irgendwie kulturpolitisch korrekt ist, sondern weil die Musizierenden und das Publikum es so wollen.

 

Würde man heute die historische Musik aus dem Konzertsaal verbannen und nur moderne Werke aufführen, wären die Säle bald verödet – genau das gleiche wäre aber zu Mozarts Zeit passiert, wenn man dem Publikum die zeitgenössische Musik vorenthalten und nur Alte Musik (zum Beispiel Barockmusik) vorgesetzt hätte.“[7]

 

Im Vergleich zu anderen Kunstgattungen ist klassische Musik seltsamerweise die einzige, in der zeitgenössische Werke nur in Ausnahmefällen im Zentrum der künstlerischen Tätigkeit von Musikern oder der rezeptionsbezogenen Hörgewohnheit des Publikums stehen. In der bildenden Kunst gibt es schlicht und ergreifend kein reproduzierendes „Interpretieren“ beispielsweise eines bereits gemalten Bildes. Wenn man sich als Malender an ein historisches Bild anlehnt, greift man eher das Thema des Bildes auf und interpretiert es neu, indem man ein eigenes neues Werk schafft, das zwar in einer zitatähnlichen Beziehung zum historischen Werk steht, dieses aber nicht einfach kopiert. In Literatur und Film zeigt sich das Primat des Zeitgenössischen noch deutlicher: Auf Festivals und im Kino laufen ausschließlich jüngst produzierte Filme; literarische Bestsellerlisten bestehen aus aktuellen Titeln, und das Feuilleton diskutiert genau jene aktuellen Werke. Selbst die von Vertretern der klassischen Hochkultur so oft verächtlich betrachtete Popmusik lebt im Kern von Gegenwartskompositionen sowohl im Profi- als auch im Laienbereich. Und interpretiert eine Band doch einmal ein bereits existierendes Musikstück, wird dieses dem im Pop vorherrschenden Prinzip der kompositorischen Anverwandlung folgend immer verändert, also neu arrangiert, neu instrumentiert, zuweilen zu einer völlig anderen Musik umgestaltet.

 

Diese Einstellung [dass historische Musik in die Gegenwart übertragen werden muss, A.D.] stammt daher, daß die Sprache der Musik immer als absolut zeitgebunden betrachtet wurde. So empfand man zum Beispiel um die Mitte des 18. Jahrhunderts Kompositionen aus den ersten Jahrzehnten als hoffnungslos altmodisch, wenn man auch ihren Wert als solchen anerkannte […] Die Alte Musik wurde nur als Vorstufe dazu betrachtet, bestenfalls als Studienmaterial herangezogen oder in ganz seltenen Fällen für irgendeine besondere Aufführung bearbeitet. Bei jeder dieser seltenen Aufführungen Alter Musik – etwa im 18. Jahrhundert – hielt man eine Modernisierung für unbedingt nötig […] wenn überhaupt historische Musik, dann modernisiert.“[8]

 

Rechtlich gesehen sind alle künstlerischen Hervorbringungen 70 Jahre nach ihrem Entstehen gemeinfrei, das heißt ihre Wiedergabe ist keinerlei urheberrechtlichen Restriktionen unterworfen. Man kann sie – über eine historisch informierte Aufführung hinaus – bearbeiten, überarbeiten, transkribieren und in neue künstlerische Kontexte transferieren, wie man möchte. Korrektiv und qualitativer Maßstab ist dabei einzig die eigene ästhetische Intention, der eigene künstlerische Geschmack. Zeitgenössisches in der Kunst definiert sich also nicht nur über Neuschaffungen. Auch der Umgang mit historischen Werken kann zeitgenössische Kunst hervorbringen.

 

Leider wird gerade in der klassischen Musik dieses Potenzial eines zeitgenössischen Umgangs mit dem musikalischen Erbe so gut wie nicht ausgeschöpft. Es entspräche der Übertragung des Prinzips des Regietheaters aus dem Schauspiel auf die Aufführung klassischer Musik, was eine Art Coverversion klassischer Stücke hervorbringen würde. Sicher: Über die Ergebnisse mancher übereifriger Theater- und Opernregisseure lässt sich streiten, und zuweilen ist es nachvollziehbar, dass der Ausdruck Regietheater auch als Schimpfwort Verwendung findet. Doch genau das ist ja die zentrale Intention dieses Prinzips: Vergangene „tote“ Kunst soll durch streitbare Transferierung in neue ästhetische Kontexte, die, bewusst oder unbewusst, die geistige, soziale und gesellschaftliche Gegenwart reflektieren, wieder lebendig, wieder diskussionswürdig, wieder aktuell werden. Wo aber bleiben flächendeckend „Regiekonzerte“ bzw. Coverversionen unserer totgespielten klassischen Meisterwerke? Sie wären ein wichtiger Baustein einer ernst gemeinten Bemühung, unser musikalisches Erbe zu bewahren.

 

Ungeachtet des Problems, dass die historische Musik jenen Platz einnimmt, den der zeitgenössischen musikalischen Kunst zustünde, verwundert ein weiteres Phänomen: Zumindest jener Teil des klassischen Konzertmarktes, der kommerziell orientiert ist, tut so, als lebten wir noch in einer Zeit ohne audio-visuelle Medien, als man bestimmte Werke nur hören konnte, wenn man sich zeitgleich im selben Raum mit musizierenden Menschen befand, die eben dieses Werk hier und jetzt live aufführten. Das ist aber seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts nicht mehr der Fall. Im Gegenteil: Alle großen Werke der Musikgeschichte sind in vielfacher, zuweilen tausendfacher Ausführung eingespielt und (fast) überall und jederzeit verfügbar. Unser musikalisches Erbe ist nicht nur in Schriftform, sondern auch als klangliches Ereignis fast vollständig konserviert und somit hochgradig gesichert. Zudem besitzen nicht bloß ausgesprochene Musikliebhaber inzwischen HiFi-Geräte, die qualitativ so hochwertig sind, dass sie die aufgenommene Musik klanglich besser wiedergeben, als man es live im Konzertsaal je erleben könnte, mit Bildschirmen, die in HD (beziehungsweise bald in UltraHD) die dazugehörigen lebensechten Video-Bilder liefern. Wir brauchen uns also eigentlich keine Sorge darüber zu machen, dass die Musik der Vergangenheit verschwindet, wenn wir sie nicht ständig live aufführen. Sie ist sowohl schriftlich als auch auditiv immer erreichbar und wird auch in Zukunft für jedermann immer erreichbar sein.

 

Fest steht: Jede große Kunst war – im provokanten aber auch im positiven Sinne – zum Zeitpunkt ihrer Entstehung eine Zumutung für die Zeitgenossen, sich zu öffnen, etwas Neues ins Bewusstsein aufzunehmen und sich daran zu reiben, sich damit auseinanderzusetzen. Die klassische Musikkultur hat zum Großteil aufgehört, Zumutung und somit relevante Gegenwartskunst sein zu wollen. Sollte es aber für jeden Musizierenden nicht am spannendsten sein, durch die Musik der Gegenwart etwas über die unter der glitzernden Oberfläche befindlichen psychologischen und gesellschaftlichen Mechanismen zu erfahren, die unsere gegenwärtige Welt bzw. unser gegenwärtiges Bild von der Welt bestimmen? Müsste nicht bei sich als Künstler begreifenden Musikern ein solches Interesse dermaßen überwiegen, dass für die Bewahrung des Erbes schlicht und ergreifend keine Zeit bleibt, selbst wenn dies durchaus wünschenswert wäre? Kunst als Zumutung ist jedenfalls nur möglich durch Gegenwartskunst oder grundlegende Neudeutung historischer Werke.

 

 

2. Das Eigene

In der Problematisierung des musikalischen Erbes scheint eine weitere wichtige Frage durch: Wie halten wir es in unserer klassischen Musik- und Musizierkultur eigentlich mit dem Eigenen? Wie halten wir es mit produktiven Umgangsweisen mit Musik? Konkret: Welchen Stellenwert räumen wir dem Improvisieren und vor allem auch dem Komponieren und Spielen eigener Werke ein? Schließlich kann ich eigene Kompositionen interpretieren, wie ich will. Ich bin niemandem Rechenschaft über meine Verklanglichung schuldig, bin mein eigener Maßstab. Und wenn sich herausstellt, dass eine Passage anders besser klingt, als ich sie notiert habe, ändere ich die Partitur. Ebenso beinhaltet das Improvisieren selbst bei stilgebundenen oder gar stilimitierenden Improvisationsformen einen hohen Anteil aus mir als Spieler erwachsener musikalisch-individueller Äußerung. Im Zentrum steht die eigene musikalisch-künstlerische Neuschöpfung. Und das diesen Prozess der Neuschöpfung navigierende Referenzsystem ist ein von mir selbst Hervorgebrachtes, mit meiner (Künstler)Persönlichkeit Identisches.

 

Unsere im letzten Jahrhundert verfestigte Trennung musikalisch aktiver Menschen in einen prozentual übergroßen Teil interpretierend Tätiger und einen fast mikroskopisch kleinen Teil komponierend Tätiger hat ihre Ursache vor allem auch in der epidemischen Beschäftigung mit unserem musikalischen Erbe, die ja in erster Linie aus der reproduktiven Tätigkeit des Interpretierens besteht. Im Verbund mit einem weitflächigen Niedergang des Improvisierens hat sich eine musikhistorisch einmalige Disbalance zwischen Produktion und Reproduktion zulasten produktiver Umgangsweisen mit Musik ergeben, die das Eigene fast vollständig aus der klassischen Musikkultur verbannt hat. Künstlerisch anspruchsvolles Improvisieren und Komponieren als alltägliches und selbstverständliches Tun eines jeden musizierenden Menschen sind weitgehend verschwunden.

 

Dabei ist Improvisation ein wesentlicher Bestandteil unseres musikalischen Erbes, der – so lange es ihn gab – gewährleistete, dass Bewahrung und Tradierung des Vorhandenen auf der einen, und Innovation, Adaption und Weiterentwicklung der Musik in der Gegenwart auf der anderen Seite sich ausbalancierten. Die Entstehung vieler großer Werke der Musikgeschichte ist ohne eine vitale Improvisationspraxis nicht denkbar. Ebenso war die Ausbildung von Musikern bis ins 19. Jahrhundert hinein tief vom Improvisieren und eigenen Komponieren durchdrungen. Der umfassend (aus)gebildete Musicus, der nicht nur das Interpretieren fremder Musik, sondern ebenso das Improvisieren und Komponieren eigener Musik beherrschte, war bis ins 19. Jahrhundert hinein eher Regel als Ausnahme. Und wahrscheinlich war genau das ein wichtiger Grund dafür, dass sich die Musik kontinuierlich erneuerte und neuartige Ausdrucksformen bzw. ästhetische Paradigmen entwickelte.

 

Alles was wir heute als unser künstlerisches Erbe bezeichnen, hatte einen innovativen, zuweilen revolutionären Kern. Es wurde von mutigen Künstlerpersönlichkeiten geschaffen, die teilweise in krassem Widerspruch zur Tradition und mit viel Gegenwind von traditionsbesessenen Menschen ihre Vision verwirklicht haben. Hätten sie nicht die innere Stärke und den Mut gehabt, die zeitgenössischen Traditionalisten zu ignorieren und sich auf ihr Eigenes zu konzentrieren, wäre unsere Musikkultur um genau jene Werke ärmer, die wir heute so verehren. Fast alle zu unserer abendländischen Musiktradition gehörenden großen Kompositionen haben einen individuellen Charakter, tragen die Handschrift eines Subjektes, haben etwas mit Eigenheit und Eigenem zu tun, sind Ausdruck einer individuellen ästhetischen Haltung und Sicht.

 

Für die Entwicklung der Musikkultur im Sinne einer fortwährenden Aktualisierung und Bezugnahme zur Gegenwart ist es offenbar von größter Bedeutung, dass Musikschaffende ihre eigene Musik, ihre individuellen musikalischen Neuschöpfungen in das musikkulturelle Gesamtsystem einspeisen. Eben so, wie es die meisten großen Musiker der Gegenwart und Vergangenheit tun und getan haben.

 

Um das zu gewährleisten, muss man jedoch auch einen Blick auf jenen Bestandteil unseres erstarrten musikalischen Erbes werfen, der neben dem Kanon historischer Werke einen zweiten wichtigen Teil ausmacht, nämlich der Ausbildungstradition klassischer Musiker. Denn so, wie die Werke unseres musikalischen Erbes die meisten Konzertprogramme überfluten, verstopfen sie auch die Ausbildung von Musizierenden. So gehorcht die klassische Ausbildung am Instrument heutzutage mehrheitlich leider immer noch folgendem ungeschriebenen Gesetz: Das Musizieren wird spätestens einige Monate nach Beginn formalen Unterrichts auf das korrekte Reproduzieren fremder Notentexte reduziert. Zuerst kommen Instrumentalschulen mit Spielstückchen im Idiom historischer Musik, dann kommen kleine historische Werke, danach kommen größere historische Werke und schließlich als Gipfel jene großen historischen Meisterwerke, die man in Aufnahmeprüfungen, auf Wettbewerben und dem Podium zu Gehör bringen kann. Bevor ein Schüler sich so durch die Musikgeschichte und ihre für das eigene Instrument hinterlassenen historischen Stücke hindurchgeübt hat, ist er erwachsen und – für den Fall, dass es zum Profi- beziehungsweise ambitionierten Laienmusiker gereicht hat – vor allem in der Lage, genau diesen Kanon historischer Werke wiederzugeben. So reproduziert sich unser System selbst und gerät mit jeder neuen Musikergeneration tiefer hinein in den Stillstand.

 

Ähnlich wie im weiter oben angesprochenen Bereich Konzertprogrammgestaltung kommen Stücke Neuer Musik in der Instrumentalausbildung zwar vereinzelt vor, der interpretatorische und ästhetische Umgang mit ihnen unterscheidet sich jedoch nur selten von jenem mit alten Werken. Indem man Maximen wie Klangschönheit, Texttreue und interpretatorische Konvention unreflektiert überträgt, wird Neue Musik dem an historischen Werken eingeübten ästhetischen Gültigkeitsbereich eingemeindet. Oder es werden gleich solche Werke der meist klassischen Moderne gewählt, die von sich aus eben jene historische Ästhetik beinhalten.

 

 

Fazit

Wie gesagt: Meine eingangs gemachte Empfehlung, dass wir uns unseres musikalischen Erbes entledigen sollten, zielt nicht ab auf ein Vergessen oder Nicht-Wertschätzen dieses Erbes, sondern darauf, dass wir uns die vielfältigen Nebenwirkungen eines übermäßigen Fokus auf historische Kulturgüter und vergangene kulturelle Traditionen bewusst machen und uns fragen müssen, ob wir diese Nebenwirkungen tatsächlich akzeptieren und in Zukunft bestehen lassen wollen. Verneinen wir Letzteres, kommen wir meiner Meinung nach nicht umhin aufzuhören, mit dem Argument des Bewahrens einer zum Großteil auch noch missverstandenen Tradition das Produzieren und Spielen neuer und eigener Musik massiv zu vernachlässigen. Denn ist die Quelle des Zeitgenössischen und des Eigenen in seiner ganzen Vielfalt als Grundlage einer aus sich selbst heraus lebendigen Kunst erst einmal versiegt, mutiert Musikkultur zu einem Scheintoten, dem beispielsweise durch Educationprojekte, Musikvermittlung oder aus dem Bereich des Pop entlehnten Vermarktungsstrategien künstlich immer wieder neu auf die Beine geholfen werden muss, der aber trotzdem nicht zu neuem Leben erwacht.

 

Meiner Meinung nach ist die Situation schlimm [der Musik in unserer Zeit und unserem Leben, A.D.], und wenn es nicht gelingt, eine Einheit unseres Musikhörens, unseres Musikbedarfs, und unseres Musiklebens herzustellen – sei es dadurch, dass Bedarf und Angebot in der zeitgenössischen Musik wieder ins Gleichgewicht kommen, sei es, dass wir ein neues Verständnis der klassischen, der Alten Musik finden –, ist das Ende abzusehen. Dann sind wir nichts als die Verwalter eines Museums, und wir zeigen dann nichts anderes mehr als das, was es früher einmal gegeben hat; ich weiß nicht, ob es viele Musiker gibt, die daran interessiert sind.“[9]

 

 

                                                      ––––––––––––––––––––––––––––––

 

 

[1] Nikolaus Harnoncourt: Musik als Klangrede – Wege zu einem neuen Musikverständnis, Salzburg und Wien 1982.

Eine gleichfalls kritische wie hellsichtige Bestandsaufnahme unserer Musik- und Musizierkultur hat Wolfgang Rüdiger vor 15 Jahren in diesem Heft veröffentlicht: Wolfgang Rüdiger: Gedanken über den gegenwärtigen Stand unseres Musiklebens und Musiklernens, in: Üben & Musizieren 1/2000, S. 30-32. Auch diesem nach wie vor aktuellen Text konnte ich vielfältige Anregungen für vorliegenden Essay entnehmen.

Für eine vertiefende Auseinandersetzung mit den hier vorgestellten Gedanken empfehle ich zudem zwei jüngst veröffentlichte provokante Interviews, zum einen mit dem Cembalisten und Musikwissenschaftler Robert Hill (Robert Hill: Quo vadis, „Alte Musik“? – Zur Rolle der Zeitgestaltung in der historisierenden Aufführungspraxis der Zukunft, in: Musik & Ästhetik, Hrsg. von Ludwig Holtmeier, Richard Klein, Claus-Steffen Mahnkopf, Heft 73, Januar 2015, S. 5-23), zum anderen mit dem neuen künstlerischen Leiter des Berliner Festivals für zeitgenössische Musik MaerzMusik, Berno Odo Polzer (Wiedereroberung der Zeit, Berno Odo Polzer im Gespräch mit Dirk Wieschollek, in: Neue Zeitschrift für Musik, # 1_2015, S. 8-14).

 

[2] Selbstverständlich hat sich in den letzten 30 Jahren einiges getan: Einerseits haben sich zahlreiche Spezialensembles für Alte Musik gegründet, die historische Musik teilweise völlig neu und inspirierend zu Gehör bringen, und andererseits sind viele Initiativen und Festivals für Neue Musik entstanden, die versuchen, neue Hörer für diese Musik zu gewinnen und zu begeistern. Trotz allem scheint es mir, dass der Kern klassischer Musikkultur von diesen Entwicklungen weitgehend unangetastet bleibt, und zwar sowohl in Bezug auf die Spitze (wie beispielsweise der Programmgestaltung an den großen klassischen Konzerthäusern) als auch die Breite (beispielsweise bezüglich der Literaturauswahl im Instrumentalunterricht).

 

[3] Harnoncourt 1982, S. 10

[4] Ebd. S.20

[5] Ebd. S.9 f.

[6] Ebd. S. 30 f.

[7] S. 14

[8] Ebd. S. 13

[9] Ebd. S. 23

 

 

                                                      ––––––––––––––––––––––––––––––

 

 

Dieser Text erschien erstmalig in Üben & Musizieren, Heft 2/2015, S. 6-11, SCHOTT Verlag, Mainz 2015.