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Lehrer sein von Beginn an

 

von Andreas Doerne

 

 

Stellen Sie sich vor, pädagogisches Handeln wäre etwas, in das man hineinwächst, ohne es zu merken. Etwas, das man von Kindheit an jeden Tag ganz selbstverständlich tut, und das deshalb sowenig außergewöhnlich ist wie Essen und Schlafen. Nichts, was man erst im Studium schulmäßig lernt, in der üblichen durchdidaktisierten Form einer in Theorie und Praxis im Schwierigkeitsgrad graduell ansteigenden Progression kleinschrittiger Lerninhalte.

Was wäre, wenn Anderen-etwas-Beibringen und Von-anderen-Lernen, Geben und Nehmen sich als ein und dieselbe Bewegung im Kosmos menschlicher Bildungsprozesse manifestierte? Wenn Pädagogik nicht explizit in Erscheinung träte, sondern weitgehend implizit alles bildungsbezogene Handeln von Menschen durchzöge. Und dabei nicht von einer belehrenden Absicht durchdrungen wäre, die das Gute für den Anderen zu wissen sich ermächtigt, sondern allein von der Liebe zur Sache, zum Lernen und zum Menschen gegenüber. Was, wenn jede Musikerin von klein auf eine Pädagogin in diesem Sinne wäre?

 

Meine Überlegungen fußen auf folgenden, teilweise zusammenhängenden Beobachtungen und Gedanken:

 

Musizierpädagogische Nachwuchsförderung

Musikschulen betrachten es völlig zu recht als ihre Kernaufgabe, sich innerhalb unserer Musikkultur um den musikalischen Nachwuchs zu kümmern. Nur meinen sie damit gewöhnlich die Ausbildung künstlerischer Fertigkeiten, nicht jedoch ein frühes Heranführen an musizierpädagogisches Handeln und einen damit einhergehenden Aufbau musizierpädagogischer Fähigkeiten. Jenseits vereinzelter Pionierprojekte (wie beispielsweise das von Marc Brand in Luzern ins Leben gerufenen Modell des Übe-Coaching)1 sehe ich aktuell keine flächendeckende Kultur einer Förderung musizierpädagogischen Nachwuchses, also junger Menschen, die von Kindesbeinen an sowohl mit dem Spielen eines Instrumentes als auch mit der Weitergabe ihres instrumentalen Könnens und Wissens betraut werden und entsprechend bereits in jungen Jahren auf selbstverständliche Art und Weise mit der Verbindung von künstlerischem und pädagogischem Handeln vertraut sind.

 

Zudem kann man vermuten, dass bei dem ein oder anderen erwachsenen Schüler – ganz gleich ob er eine langjährige Erfahrung im Spielen eines Instrumentes mitbringt oder instrumentaler Anfänger ist – ein Interesse daran besteht, das eigene, entweder bereits vorhandene oder aber gerade erworbene Wissen und Können an andere Menschen weiterzugeben. Auch hier ist von musikschulischen Einrichtungen aktuell keine Bemühung erkennbar, dieses im Verborgenen möglicherweise vorhandene Vermittlungspotential aufzugreifen, zu fördern und als Bildungsressource zu nutzen.

 

Tatsächlich finden sich Elemente einer musikpädagogischen Nachwuchsförderung im Bereich von Musikvereinen und allgemeinbildenden Schulen. Das Lehren-Lernen von Jugendlichen wird dabei in der Regel an formale, externe und kostenpflichtige Kurse gebunden, für die man sich explizit anmelden oder gar bewerben muss. Ein Beispiel dafür ist das vom baden-württembergischen Kultusministerium aufgelegte Programm zur Ausbildung von Schülermentoren, das es seit 1997 auch für den Bereich Musik gibt.2 Im Zuge dieses Programms können sich Jugendliche von Haupt-, Werkreal-, Real- und Gemeinschaftsschulen im Alter ab 13 Jahren zu Musiklotsen, Gymnasialschüler ab dem 16. Lebensjahr zu Musikmentoren ausbilden lassen. Die fünf bis achttägige, mit dem Erhalt einer Urkunde abgeschlossene Ausbildung setzt vor allem auf ensemblebezogene künstlerische, künstlerisch-theoretische und organisatorische Inhalte. Musikpädagogik als curriculares Element taucht lediglich in Gestalt des Faches „Probenmethodik“ am Rande der Inhaltsübersicht auf.3

Solche oder ähnlich konzipierte Beiträge zur Förderung musikpädagogischen Handelns in Gestalt formaler Ausbildungsprogramme mögen aus traditioneller bildungspolitischer Sicht heraus interessant und lobenswert erscheinen. Aus folgenden Gründen entsprechen sie jedoch in keiner Weise dem, was ich mit einer flächendeckenden Kultur musizierpädagogischer Nachwuchsförderung meine: Sie

  • setzen altersmäßig zu spät an, anstatt kindliches Lernen so früh wie möglich mit eigenen Vermittlungsversuchen in Beziehung treten zu lassen,
  • hören altersmäßig zu früh auf, anstatt auch Erwachsene und Senioren anzusprechen,
  • haben als Lehrgang ausschließlich formalen Charakter, anstatt ein weitgehend selbstgesteuertes, informelles beziehungsweise non-formales Ausprobieren musizierpädagogischer Handlungsmöglichkeiten ins Zentrum zu rücken,
  • erfordern einen gewissen Aufwand für Anmeldung/Bewerbung und einen hohen Aufwand für die Teilnahme, anstatt Niederschwelligkeit als wesentlichen Faktor für das Erreichen einer kulturverändernden kritischen Masse an Partizipanten zu erkennen,
  • beruhen auf dem Prinzip der lehrergeführten Ausbildung, anstatt auf jenem einer autonom gesteuerten Selbst-Bildung im Austausch mit anderen,
  • transportieren ein klassisches Lehrerbild, anstatt sowohl die Lehrer- als auch die Schülerrolle durchlässiger zu machen,
  • bilden nur einen Anteil von Schülern im Promillebereich aus, anstatt den Großteil aller Schülerinnen und Schüler einer Einrichtung anzusprechen und einzubeziehen,
  • sind kostenpflichtig statt kostenlos.

Um dem Ziel einer – wie mir es vorschwebt – flächendeckenden und altersunabhängigen Kultur musizierpädagogischer Nachwuchsförderung näher zu kommen, halte ich es weder für ausreichend, lediglich elementare Kenntnisse in Ensembleleitung zu lehren, noch für sinnvoll, eine Einführung in didaktisch fundiertes, schulmäßig „richtiges“ Lehren zu geben, also einen formalen Unterrichtskurs einzurichten, in dem man lernt, wie man formalen Unterricht erteilt und die klassische Lehrerrolle als wissender Vermittler ausfüllt. Auch sollte es in meinen Augen nicht darum gehen, Schüler zu Hilfslehrern umzufunktionalisieren, die weisungsgebunden Dinge ausführen, für die der Hauptlehrer keine Zeit oder Lust hat.

 

Positiv formuliert: Worum es mir geht, ist der Aufbau einer weitreichenden „Lehr“-Kultur situativ sich ergebender, weitgehend informeller, auf Augenhöhe sich ereignender und gerne auch reziproker Vermittlungsprozesse; wenn man so will um das Pendant zum informellen Lernen: ein informelles beziehungsweise non-formales Lehren, das alle Bereiche einer Musikschule durchwirkt und alle Beteiligten einbezieht.4

 

 

Eine Kultur des umgehenden Weitergebens von Gelerntem

Zusammenfassend könnte man sagen: An unseren Bildungsinstitutionen fehlt es an einer Kultur, Gelerntes umgehend weiterzugeben, das eigene Wissen und Können selbstverständlich, großzügig, niederschwellig, hierarchiefrei und unförmlich mit anderen zu teilen. Wer etwas gelernt hat, behält es tendenziell für sich, oder gibt es außerhalb der Bildungsinstitution weiter.

 

Vielleicht liegt dies ja daran, dass wir in unserer an materiellen Werten orientierten Gesellschaft das Weitergeben und Teilen vorrangig als ein Weitergeben und Teilen von materiellen Gütern begreifen. Und das wäre tatsächlich eine Verlustrechnung: Teile ich etwas Materielles mit anderen, habe ich als Resultat weniger davon; gebe ich es in Gänze weiter, bleibt für mich selber gar nichts mehr übrig. Mir scheint, als würden wir mit Lernresultaten an unseren Bildungsinstitutionen genau so, nämlich wie mit einer Ware umgehen, die sich verknappt, wenn man sie teilt.

 

Mit geistigen Gütern beziehungsweise handlungsbezogenen Fertigkeiten verhält es sich hingegen umgekehrt: Wenn ich etwas von meinem Wissen und Können mit anderen Menschen teile, wird dieses Etwas nicht weniger, sondern vermehrt sich. Nach dem Teilen „besitze“ ich mein weitergegebenes Wissen und Können nach wie vor zu 100 Prozent, der Adressat meines Teilens tut dies jedoch ebenso. Zudem vermehren sich geistige Güter und prozedurale Fertigkeiten nicht bloß im Sinne einer industriell gefertigten Kopie, sondern sie verändern und entwickeln sich häufig im Prozess des Weitergebens, weil a) unterschiedliche Menschen ein und dasselbe Wissen unterschiedlich auffassen und mit ihren eigenen, bereits vorhandenen Gedanken zu etwas Neuem kombinieren, weil b) sie ein und dieselbe Fertigkeit an ihre je unterschiedlichen motorischen Fähigkeiten oder körperlich-konstitutionellen Bedingungen anpassen und ihr so eine neue Prägung geben, und weil c) sogar der Lehrende im Prozess des Weitergebens seines Wissens oder Könnens dieses häufig tiefer durchdringt und so etwas Neuartiges über selbiges erfährt. Geistige Güter und Fertigkeiten vermehren sich quantitativ und fast immer auch qualitativ, wenn man sie teilt! Eine nur auf den ersten Blick banale Feststellung, die unsere Sicht auf Resultate menschlicher Bildungsbemühungen grundlegend verändern kann.

 

 

Starre Rollenzuweisung: Lehrer lehrt, Schüler lernt

Ein weiterer Grund für das weitgehende Fehlen einer Kultur des umgehenden Weitervermittelns von etwas Gelerntem innerhalb unserer Bildungsinstitutionen ist sicherlich auch, dass Schulen dahin tendieren, die Lehrerrolle ebenso wie die Schülerrolle exklusiv zu vergeben. Das heißt, wenn man das eine ist, kann man das andere nicht sein. Lehrer treten immer als Lehrende in Erscheinung, Schüler ausschließlich als Lernende. Das Ganze ist zudem weitgehend unverhandelbar, sodass innerhalb des Systems so gut wie keine Rollendurchlässigkeit entstehen kann. Die Festschreibung auf eine Rolle gilt für Schüler viele prägende Jahre lang, für Lehrer meist lebenslänglich. Das heißt, so lange man Schüler ist, wird man auf die Tätigkeit des Lernens festgeschrieben, wenn man Lehrer ist auf jene des Lehrens.

 

Wenn es in seltenen Fällen einmal zum Rollentausch kommt (beispielsweise durch Schülerreferate) bedeutet dies fast immer, dass Schüler kurzfristig in ein starres Verständnis von Lehrerrolle hineinschlüpfen dürfen und dabei zusätzlich von einem „echten“ Lehrer kontrolliert und bewertet werden. Der umgekehrte Fall, nämlich dass Lehrer in eine eng verstandene Schülerrolle hineinschlüpfen, findet nie statt. Wozu auch? Sind Lehrer doch verständlicherweise heilfroh darüber, diesem Stadium entwachsen zu sein. Etwas wirklich Neues hingegen wäre es, wenn Schüler und Lehrer für Lernumgebungen sorgten, in denen ihre Rollen zwar nicht aufgehoben aber doch weitest möglich durchlässig wären. Wenn Lehrer ihre ureigenen Lerninteressen in die Schule trügen und ihnen dort gemeinsam mit interessierten Schülern nachgingen. Und wenn Schüler auf vielfältige Weise Gelerntes weitergäben, ohne als belehrende Instanz aufzutreten oder – etwas moderner – den Lernmoderator zu geben, der Lernenden vordergründig Freiheit lässt, im Hintergrund aber doch alle unterrichtsrelevanten Fäden fest in der Hand hält.

 

 

Bruch in der Bildungsbiografie

Im Laufe der Bildungsbiografie angehender Lehrerinnen kommt es entsprechend häufig zu einem einschneidenden Ereignis: Nach dem Studium erfolgt mit dem Berufseintritt ein abrupter Rollenwechsel von der zuvor ausschließlich Lernenden zur plötzlich fast nur noch Lehrenden. Dieser bildungsbiografische Bruch kennzeichnet sich zudem dadurch, dass mit dem Wechsel der Rolle von der Schülerin zur Lehrerin, die Lehrende plötzlich fast nur noch auf sich allein gestellt ist. Im Klassenzimmer, im Instrumentalunterricht, als Leitende von Musiziergruppen hat man als Lehrerin normalerweise keine Kollegen an der Seite, mit denen man sich regelmäßig austauschen kann. Sei es, um als gleichberechtigte Partner gemeinsamen Unterricht zu planen, durchzuführen und zu reflektieren, oder aber mit einer Gruppe von Lehrenden andersartige, größer angelegte pädagogische Projekte zu entwerfen und zu realisieren. Kolleginnen und Kollegen finden sich im Berufsalltag vor allem dann als Gruppe zusammen, wenn Lehrerkonferenzen stattfinden. Dort stehen jedoch häufig organisatorische Belange auf der Tagesordnung, weniger künstlerisch-pädagogische Fragen. Zudem finden Konferenzen nicht oft genug statt, als dass sich die Gruppe zu einem Team weiterentwickeln kann, deren Mitglieder auch in der alltäglichen Arbeit real zusammenarbeiten.

 

Warum eigentlich lassen Schulen es so wenig zu, dass Lehrerinnen während ihrer Arbeitszeit auch das eigene Lernen vorantreiben und innerhalb der Schule so als Lernvorbild wirken? Und warum ermutigen Bildungsinstitutionen parallel dazu Schülerinnen so wenig, Gelerntes an Jüngere oder weniger fortgeschrittene Ältere weiterzugeben? Der Übergang von der Schülerin zur professionellen Lehrerin wäre somit ein fließender. Und als Lehrerin würde man qua Jobauftrag nie aufhören, Lernende zu sein und auch als Lernende musizierpädagogisch zu wirken.

 

 

Pädagogische Anfänger

Dieser Mangel an Ermutigung, etwas Gelerntes bei entsprechender Nachfrage umgehend wieder weiterzugeben, wirkt sich auch auf die Arbeit von Musikhochschulen aus: Studienanfänger in künstlerisch-pädagogischen Studiengängen haben einen Großteil ihres gesamten bisherigen Lebens mit dem Lernen eines Instrumentes verbracht, sind aber meist nur wenig bis gar nicht vertraut mit dem Weitergeben ihres Könnens und Wissens. Eine hohe künstlerische Expertise steht häufig einem völligen Anfängersein in pädagogischen Dingen gegenüber. Schade ist dies zum einen für die in der Ausbildung angehender Musizierlehrer tätigen Dozentinnen. Besteht in musizierpädagogischen Seminaren doch kaum ein Pool an Erfahrungen oder Vorwissen, an das sie mit ihren Lehrbemühungen anknüpfen können. Schade ist es zum anderen für die Studienanfänger selbst. Können sie doch nur partiell wissen, worauf sie sich bei ihrer Studienwahl einlassen, was sie sich im Laufe des Studiums an spezifischen pädagogischen Inhalten erschließen wollen, welches musizierpädagogische Berufsprofil sie anstreben, wohin die eigene Bildungsreise als unterrichtender Künstler zumindest in groben Zügen für sie gehen soll. Wenn alles optimal läuft, ergibt sich ein solches Bild zum Ende des Bachelor-Studiums, das dann jedoch vorbei ist.

 

 

Warum also kann man es als wichtig erachten, in eigenes pädagogisches Handeln so früh wie möglich hineinzuwachsen?

  • Weil die zentralen Kompetenzen einer Lehrerin genauso Übung benötigen wie das Spiel des eigenen Instruments. Übung darin, das eigene Lernen ebenso wie das Lernen anderer aufmerksam zu beobachten, eingehend zu verstehen und diesen Beobachtungs- und Verstehensprozess niemals als abgeschlossen, sondern als immer wieder neu zu leistende Bemühung anzusehen. Um schließlich aus diesem sich immer wieder erneuernden Verständnis heraus individuelle Vermittlungsaktionen im dialogischen Austausch mit der Vermittlungsadressatin zu gestalten.
  • Weil eigenes pädagogisches Handeln das eigene Lernen immens fördern und intensivieren kann, da jeder noch so unspektakuläre Vermittlungsversuch zumindest ansatzweise mit einer Reflexion des zu Vermittelnden einhergeht, spätestens wenn die Vermittlungsadressatin Fragen stellt, etwas nicht versteht oder anderweitig mit der Vermittelnden in Interaktion über die Vermittlungssache tritt. Entsprechend beinhaltet jegliches pädagogische Handeln für die Vermittelnde, dass sie das zu Vermittelnde aus einer neuen Perspektive heraus betrachtet, nämlich jener des Gegenübers, dem sie etwas beibringt. Dieser empathisch bedingte Perspektivwechsel – weg von der bekannten eigenen Sicht hin zu einer externen, das Eigene mal bestärkenden, mal relativierenden, mal kritisch in Frage stellenden Sicht – bereichert ein Bildungsgut im Kopf der Vermittelnden, macht es zunehmend diaphan und fluide und kann so zum Auslöser für weitere Bildungsbemühungen werden.
  • Weil eigene Vermittlungsversuche die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass Schüler ein Bewusstsein dafür entwickeln, wie in Unterrichtskontexten, die sie selber erleben, gelehrt wird. Und mit diesem Blick hinter die Kulissen des Unterrichtstheaters allmählich die Fähigkeit entwickeln, allgemein lernförderliche Bedingungen von solchen zu unterscheiden, die das Lernen tendenziell behindern. Da Lehren nie Selbstzweck ist und also keinen Wert an sich darstellt, sondern immer nur funktional auf eine Förderung des Lernens der Belehrten gerichtet ist und ausschließlich daraus seine Daseinsberechtigung bezieht, mag es zunächst nicht als gravierendes Problem erscheinen, wenn Schüler genau dies nicht tun. Zumal Lehrpersonen an Bildungsinstitutionen gewöhnlich reichlich vorhanden sind und normalerweise ungefragt, automatisch und „professionell“ zu lehren anfangen, sobald sie einen Unterrichtsraum betreten. Geht man jedoch davon aus, dass jedes instrumentale Üben einer Schülerin im stillen Kämmerlein im Wesentlichen ein Sich-selbst-Lehrer-Sein ist – also ein Handeln darstellt, bei dem Trainerin und Trainierte ein und dieselbe Person sind –, rückt die (auto)didaktisch-methodische Kompetenz der Übenden deutlich in den Fokus. Sie erscheint bei näherer Betrachtung sogar als eine Schlüsselkompetenz für erfolgreiches Musizierenlernen. Das nicht nur in der musizierpädagogischen Literatur in breitem Konsens geforderte Üben-Lernen ist im Kern eigentlich ein Lehren-Lernen, genauer gesagt: ein Fremdes-Lehren-Reflektieren-und-in-konstruktiven-Bezug-zum-eigenen-Üben-setzen-Lernen. Es ist anzunehmen, dass eine so verstandene Übe-Kompetenz am wirkungsvollsten durch frühes eigenes pädagogisches Handeln entwickelt wird.
  • Weil eine bis ins hohe Jugendalter hineinreichende ausschließliche Einprägung der Schülerrolle als Exklusivrolle hauptsächlich im Einzelunterricht (wie sie vor allem in Kontexten klassischer Musizierausbildung häufig vorkommt) das eigene Selbstkonzept als Lernender so stark einseitig beeinflusst, dass man sich später als Lehrer nur schwer eine andersartige Schülerrolle vorstellen kann. Infolgedessen besteht die Gefahr, dass man das eigene Lehren unbewusst so gestaltet, dass sich jene Ausprägung einer Schülerrolle, wie man sie selber erlebt hat und entsprechend gut kennt, unverändert tradiert.
  • Weil Schüler, die hauptsächlich fremdgesteuertem schulischen Lernen ausgesetzt sind und niemals selber Lehren, leicht die Haltung eines Bildungskonsumenten entwickeln, der Bildungsgüter und Unterrichtsdienstleistungen weitgehend passiv konsumiert. Diese Haltung hat weitreichende Folgen für die Gestaltung von Unterrichtsprozessen: Lehrende, deren Unterricht bei derart geprägten Lernenden „ankommen“ soll, sind so gezwungen, Bildungsinhalte in konsumierbare „Lernhappen“ zu verwandeln und selber als „Verkäufer“ beziehungsweise Vermittler dieser Ware in Erscheinung zu treten. Frühes eigenes Lehren kann dazu beitragen, dass eine solche Haltung auf Seiten der Schüler gar nicht erst entsteht. An ihrer Stelle kann sich stattdessen ein Selbstbild als verantwortlicher Gestalter der eigenen sowie fremder Bildungsbiografien entwickeln.
  • Weil es einen entscheidenden Unterschied gibt: In jedem reflektierten Lehren ist implizit immer auch ein Lernen enthalten, der umgekehrte Fall gilt jedoch nicht. Ein Lernprozesse begleitendes Lehren bzw. informelles Vermitteln ergibt sich nicht von selbst, sondern muss aktiv angeregt und bewusst praktiziert werden, jedenfalls solange, bis sich unsere Bildungsinstitutionen inhaltlich und strukturell grundlegend weiterentwickelt haben.

 

Fazit

In die Musikschulpraxis müssten peu à peu vielfältige kooperative Lernformen integriert werden, die wechselseitigen Austausch beim instrumentalen Üben und gegenseitige Unterstützung bei allen anderen Aspekten musikalischen Lernens fördern. Schüler müssten möglichst früh dazu angeregt werden, voneinander anstatt nebeneinander her zu lernen, das eigene Lernen sowie das Lernen anderer zu reflektieren und eigene Bildungsprozesse im Austausch mit anderen selbstständig zu gestalten. Indem Schüler sich daran gewöhnen, auch ein Interesse am Lernen anderer zu entwickeln, es zu beobachten, vielleicht sogar empathisch zu verstehen und durch bewusste Interaktion beziehungsweise dialogische Intervention zu beeinflussen, agieren sie als Lehrer, ohne dass die Notwendigkeit bestünde, ihre Rolle explizit als solche zu bezeichnen und ihr Handeln explizit mit dem Etikett „Lehren“ zu versehen.

Lehrer müssten ihrerseits lernen, pädagogisch zurückhaltender zu agieren. Sich aus jenen Lernprozessen gegebenenfalls völlig herauszuhalten, die eigenständig zwischen Schülern, aber direkt vor ihren Augen ablaufen. Andererseits sollten sie ebensolche Situationen wechselseitigen Lernens zwischen Schülern bewusst anregen und diese auch aktiv begleiten. Dies würde zu einer Art des Coachings führen, bei dem eine etwaige pädagogische Intervention nicht nur aus künstlerischer Unterstützung, sondern genauso auch aus vermittlungsmethodischer Hilfestellung bestünde. Welche Situation welche Herangehensweise erfordert (Heraushalten versus Einklinken) wäre Teil eines für viele Lehrende neuen pädagogischen Explorationsfeldes. Schließlich müssten sie sich mit dem zunächst befremdlichen Gefühl von „Arbeitslosigkeit inmitten der Arbeit“ auseinandersetzen.

 

 

 

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1 Marc Brand: Übe-Coaching – Ein polyfunktionales Modell für die Musikschule, Hochschule Luzern (Musik) 2010, Version 2 vom 12. Oktober 2011 (http://edoc.zhbluzern.ch/hslu/m/fb/2010_1A_Brand_version2.pdf)

 

2 http://www.km-bw.de/,Lde/Startseite/Schule/Mentorenprogramm+Musik (Letzter Zugriff: 16.08.2017)

 

3 http://www.landesmusikverband-bw.de/cms/iwebs/download.aspx?id=101704 (Letzter Zugriff: 16.08.2017)

 

4 Diese Kritik lässt sich genauso auf die Pre-Colleges und Begabtenförderungsakademien an Musikhochschulen beziehen. Auch dort lassen sich nur wenige bis gar keine Bemühungen erkennen, Nachwuchsarbeit auch als musizierpädagogische Nachwuchsförderung zu verstehen.