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Musikproduktion – das vernachlässigte Stiefkind unserer Musizierlernkultur

 

von Andreas Doerne

 

 

Musikhören findet heutzutage fast nur noch medial vermittelt statt. Die Musikproduktion hat die Live-Aufführung nicht gänzlich, aber doch zu großen Teilen verdrängt: Menschen verbringen deutlich mehr Zeit mit ihrer CD-Sammlung, ihrem MP3-Player, einem Musikstreamingdienst oder dem Radio als im Konzertsaal. Über einen prozentualen Anteil von medial vermitteltem Musikhören zum Hören von live gespielter Musik lässt sich nur spekulieren: Ich schätze ihn auf 95:5.

 

Nicht nur für angehende professionelle Musikerinnen und Musiker, sondern eigentlich für alle musizierenden Menschen bedeutet dies, dass eine gute Produktion der eigenen Musik für die öffentliche Wahrnehmung der künstlerischen Leistung um den Faktor 20 (!) wichtiger ist, als das öffentliche Spielen auf einer Bühne.

 

Doch jenseits dieser pragmatischen Überlegung, wie man am besten ein Publikum erreicht, kann das Produzieren der eigens gespielten oder sogar komponierten Musik unschätzbare Vorteile mit sich bringen, die wir in unserer Musizierlernkultur weitgehend ignorieren! Daher ist es in meinen Augen wichtig, sich dem Thema eingehender zu widmen, indem man zunächst folgende Fragen klärt:

  1. Was genau ist Musikproduktion?
  2. Was genau können Instrumentalisten über Musik und ihr eigenes Spiel lernen, wenn sie selber Musik produzieren?
  3. Welchen Einfluss auf die Lernmotivation von Schülerinnen und Schülern hat es, wenn als Abschluss eines instrumentalen Lernprozesses ein Produkt in Form einer Musikproduktion steht?

Ein nächster Schritt bestünde dann darin zu überlegen, wie die gewonnenen Erkenntnisse tatsächlich in die Lernpraxis an Musikschulen eingebracht werden können. Doch eins nach dem anderen …

 

1. Was genau ist Musikproduktion?

 

"Musikproduktion realisiert sich folglich nicht in zwei getrennt voneinander ablaufenden Prozessen, besteht nicht aus dem musikalischen Vorgang der Interpretation einerseits und dem technischen Vorgang ihrer Reproduktion anderseits. Vielmehr sind die musikalische und die technische Seite im Studio unlösbar miteinander verbunden, durchdringen einander in einer Weise, die einen neuartigen, an die Medien gebundenen Modus des Musizierens begründet." [1]

 

Bei der Beschäftigung mit Musikproduktion gilt es zunächst, das verbreitete Missverständnis aus der Welt zu räumen, wenn man von Musikproduktion spreche, meine man mehr oder weniger das Aufnehmen einer live gespielten Musik. Dem ist nicht so: Musikproduktion ist viel mehr – und eigentlich etwas völlig anderes – als bloße Musikaufnahme.

 

Ich möchte zu Beginn meiner Ausführungen eine etwas umfangreichere, hoffentlich aber erhellende Analogie anführen: Das missverständliche Gleichsetzen von Musikaufnahme und Musikproduktion ist vergleichbar mit der Verwechslung von unreflektiert-naivem „Knipsen“ auf einer digitalen Kompaktkamera im Automatikmodus mit echter Fotografie. Beim Knipsen versucht man, eine Szene des eigenen Lebens ohne größeren Aufwand für die Erinnerung festzuhalten. Tatsächlich ist es den meisten Menschen egal, ob das dabei entstandene Foto einen bildgestalterischen Eigenwert als Fotografie hat oder nicht. Hauptsache, das als vermeintliches Abbild der Realität eingeordnete Foto ermöglicht eben jene Erinnerung an den erlebten Augenblick des eigenen Lebens. Dieses im Bereich des Sichtbaren angesiedelte Prinzip ähnelt stark jenem der bloßen Musikaufnahme im Bereich des Hörbaren. Beiden gemein ist der Wunsch, Sinneseindrücke so einzufangen, dass das resultierende Produkt (Foto oder Audioaufnahme) eine visuelle oder akustische Szene genauso wiedergibt, wie sie einem in jenem Augenblick erschien – unverfälscht und authentisch.

 

Bei einer analog zum Knipsen wenig bis gar nicht reflektierten Musikaufnahme platzieren Menschen ein Stereo-Mikrofon, einen diktiergerätgroßen MP3-Audiorecorder oder auch nur ein Smartphone irgendwo im Raum und nehmen das Live-Spiel von sich selbst bzw. dem eigenen Ensemble auf, sodass sie sich im Nachhinein ein Bild davon machen können, wie gut sie selber gespielt haben und wie die Performance im Raum geklungen hat. Eine solche Musikaufnahme dient dem Festhalten eines musikalischen Augenblickes zum Zweck der Kontrolle oder Erinnerung. Ebenso wie beim bloß geknipsten Snapshot wird diese Aufnahme häufig mit dem gedanklichen Etikett „So war es!“ versehen, ohne in Erwägung zu ziehen, dass die Wahl des Aufnahmegerätes, seine Leistungsfähigkeit als Klangwandler und seine Position im Raum den Klangeindruck verfälschen, ja teilweise regelrecht entstellen können. Deswegen muss ein so praktiziertes Musikaufnehmen respektive Knipsen nicht schlecht sein. Es erfüllt einen begrenzten Zweck für den Aufnehmenden/Knipsenden, geht jedoch nicht darüber hinaus.

 

Musikproduktion hingegen entspricht in meiner Analogie dem echten Fotografieren, bei der die Fotografin mit dem Licht spielt, eine Szene im Sucher arrangiert, sie mit ihrer Bildvorstellung im Kopf abgleicht, die Kamera manuell exakt auf die Erfordernisse der Situation einstellt und gegebenenfalls ein eigens geschminktes und gekleidetes Modell in seiner Pose genau drapiert. Das dabei entstandene Foto wird anschließend in der digitalen Dunkelkammer am Computer in Bezug auf Helligkeit, Kontrast, Farbe und viele weitere Parameter bearbeitet.

 

Ebenso verhält es sich mit der Musikproduktion: Wenn man Musik nicht bloß aufnimmt, sondern produziert, beginnt man mit der zur eigenen Klangvorstellung passenden Auswahl des Instrumentes und des Aufnahmeraumes. Man wählt die Art der Mikrofone aus, testet gegebenenfalls vor Ort das eine gegen das andere, ordnet sie nach wiederholter Hörkontrolle im Raum an und spielt mehrere Versuche, sogenannte Takes, ein. Dann geht es in den Schnitt, bei dem alle gelungenen Passagen, teilweise sogar einzelne Takte, zunächst identifiziert und daraufhin zu einem Ganzen zusammengefügt werden. Wenn das Ergebnis noch nicht als künstlerisch ideal empfunden wird, nimmt man einzelne Teile noch einmal neu auf (sogenannte Overdubs), so lang bis das Rohmaterial perfekt ist. Schließlich geht es zum Mix über, bei dem man vor allem das Stereo- bzw. Surround-Panorama (Pan), die Klangfarbe (EQ), die Dynamik (Kompressor) und den Hall-Raum (Reverb) mitunter stark bearbeitet. Vollendet wird die Produktion an einem neuen Tag in möglichst einer neuen Studioumgebung mit dem Mastering, bei dem noch einmal feine, aber mitunter entscheidende Klangverbesserungen der Stereosumme getätigt werden.

 

Und diese Beschreibung der Elemente und Etappen einer Musikproduktion ist nur die vor allem im Klassikbereich vorkommende kleinstmögliche Variante mit vornehmlich akustischen Instrumenten ohne separiertem Einspielen einzelner Musiker. Begibt man sich in den Bereich der Popularmusik, wird der so schon vielgestaltig erscheinende Vorgang des Musikproduzierens noch wesentlich komplexer, weil zu den akustischen Instrumenten elektronische Klangerzeuger, Sampler, ein Midi-Environment, vielerlei Audioeffekte zur elektronischen Verfremdung akustischer Instrumentalklänge, das Prinzip des getrennten Einspielens nicht nur einzelner Teile, sondern einzelner Instrumente, sowie das Arrangieren bzw. Komponieren selbst hinzukommen. Egal jedoch, wie komplex eine Musikproduktion ist, in jedem Fall gilt: Die Tätigkeit des Musikproduzierens erschöpft sich nicht im bloß Technischen des Musikaufnehmens. Sie ist ein kreativer Akt! Das fertige Audiofile einer Musikproduktion besitzt als Produkt einen künstlerischen Eigenwert. Ausgerichtet auf die Wiedergabe der Musik auf Hifi-Lautsprechern als physischem Klangkörper steht es gleichberechtigt neben dem Eigenwert einer Live-Aufführung im Konzertsaal, obwohl sich beide Produkte in ihrer Machart und ihrem Entstehungsprozess fundamental voneinander unterscheiden. So wie Fotografie mehr ist als Knipsen, ist Musikproduktion mehr als bloßes Musikaufnehmen. Letzteres ist in Ersterem enthalten, umgekehrt aber nicht.

 

 

2. Was genau lernen Instrumentalisten über Musik und ihr eigenes Spiel, wenn sie selber Musik produzieren?

 

Hören lernen

Musikproduzieren schult das Hören, wie es kein klassischer Gehörbildungsunterricht je könnte. Denn Musikproduzieren ist interaktiv: Man greift aktiv in das Klanggeschehen ein, das man analytisch hört. Eigentätig beeinflusst und verändert man das, was einem als Klang aus den Lautsprechern entgegenkommt. Das sich in diesem Tun verändernde Klangergebnis erfordert seinerseits neue Hörqualitäten und Wahrnehmungsperspektiven sowie neue Versuche der Manipulation, die wiederum das Klangergebnis verändern und so weiter und so fort. Als Musikproduzierender ist man Regisseur, Schauspieler und Zuschauer in einem. Hören mündet immer in eine Handlung, die das Gehörte selbst klanglich verändert.

 

Nehmen wir ein Beispiel, das jeder kennt, der schon einmal Musik produziert hat, nämlich die Erfahrung einer zunehmenden Sensibilisierung des Hörens von Obertonstrukturen, die bekanntermaßen für den musikalischen Parameter Klangfarbe verantwortlich sind:

 

Anfänger im Musikproduzieren merken meist erst zu Beginn der Produktionsphase des Mischens, dass es im Klangspektrum der Aufnahme schwere Disbalancen gibt, die kaum mehr zu korrigieren sind. Der erste Schritt beim Versuch, ihnen doch noch Herr zu werden, besteht dann darin, dass man die Einstellung „Güte-Kurve“ seines Equalizers entdeckt und anfängt, mit sogenannten Notch-Filtern (auf einen sehr engen Frequenzbereich fokussierte EQs) Teile des Frequenzbandes hochgradig selektiv zu manipulieren. Das funktioniert anfänglich auch ganz gut, denkt man. Bis einem auffällt, dass durch die Dämpfung einer hässlichen Frequenz, eine andere umso mehr in den Vordergrund tritt. Je mehr man also mit den EQs im Frequenzband herumfährt, desto mehr Disbalancen in einzelnen Bereichen fallen einem auf, desto klangfarblich sensibler wird man.

 

Viele Musiker hören beim selbsttätigen Abmischen zum ersten Mal in ihrem Leben einzelne Frequenzbänder und Obertonstrukturen in völliger Klarheit aus einer Aufnahme heraus. Sie erleben die Charakteristika bestimmter Frequenzen, die ihr Instrument hervorbringt. Sie erfahren durch eigenes Tun (nämlich dem wiederholten Justieren des EQ), welche Auswirkung eine Dämpfung oder Verstärkung einzelner Frequenzen auf das Gesamtklangbild hat. Und sie lernen so die spezifischen klangfarblichen Eigenheiten ihres eigenen Instrumentes kennen. All dies resultiert schließlich in einer neuen, differenzierteneren weil sensibleren Art, das eigene Spiel zu hören.

 

Zurück zum Vorgang des Mischens: Merkt man nach einiger Zeit des Versuches, das Klangbild der Aufnahme doch noch zu retten, dass eigentlich nichts mehr zu retten ist, muss man sich auf der Suche nach einem wohlklingenden Resultat gezwungenermaßen wieder der Arbeitsstufe vor dem Mix, der Aufnahme zuwenden. Sensibilisiert durch die Hörerfahrungen beim Mischen, geht man jetzt jedoch sorgfältiger bei Auswahl und Positionierung der Mikrofone vor. Hilfreich dabei ist ein geschlossener, laut eingestellter Kopfhörer, auf den man das Signal eines anderen Spielers routet, der als Ersatz für einen selbst das eigene Instrument live spielt. Diesen versucht man nun, so gutklingend wie möglich zu mikrofonieren. Ein erster Abgleich mit einer frisch entwickelten Klangvorstellung im Kopf findet statt und veranlasst zu Experimenten mit der Mikrofonposition: Bestimmte Flächen des instrumentalen Resonanzkörpers – teilweise einzelne Quadratzentimeter – klingen völlig unterschiedlich, weswegen eine Veränderung von Mikrofonstellung und -abstand mitunter gewaltige Auswirkungen auf das Signal im Kopfhörer hat.

 

Und siehe da: Beim Mix dieses zweiten Aufnahmeversuches des eigenen Spiels muss man frequenzmäßig schon gar nicht mehr so viel korrigieren! Präziser ausgedrückt: Die Korrekturversuche greifen besser, weil das Rohmaterial aufgrund der sorgfältigeren Mikrofonierung besser ist. Und weil die eigene Hörfähigkeit bei jeder Stunde konzentrierten Mischens automatisch ebenfalls immer besser wird und sich weiter ausdifferenziert, stellt man schon bald fest, dass das Ergebnis schon gut, aber immer noch nicht ideal ist.

 

An diesem Punkt fängt man dann an, die neu erworbene Hörfähigkeit in Bezug auf Klangfarben bewusst beim Spielen selber einzusetzen. Und hier wird es richtig spannend, denn es entsteht ein sich selbst regulierender Kreislauf von Klangfarbenvorstellung und Klangfarbenrealisation über die Klangfarbenwahrnehmung des Spielers selbst. Ein Prozess, der fast automatisch zu einem immer „schöner“ klingenden musikalischen Ergebnis führt.

 

Und diese kurze Schilderung bezieht sich nur auf einen kleinen Teil des Hörens, eben der Klangfarbe. Die Hörfähigkeit auf andere musikalische Parameter kann sich jedoch genauso positiv durch das eigene Musikproduzieren entwickeln:

  • Beim Schneiden beispielsweise lernt man viel über musikalische Interpunktion, Agogik, die richtige Länge von Pausen und das Tempo.
  • Beim Spiel mit Reverb und Delays beispielsweise lernt man viel über die Anpassung des eigenen Spiels an den Aufführungsraum. Mitunter wird einem erstmalig wirklich klar, dass man in jeder Situation (selbst in der Übezelle) in einen Raum hineinspielt, und gestaltet dieses für den Sound fortgeschrittener Musiker so charakteristisch ausgeprägte Klang-in-den-Raum-schicken ab da bewusst.

 

Klangvorstellung bilden

Mit zunehmender Hörerfahrung in der Studioumgebung des Musikproduzierens sowie der Übertragung dieser Erfahrung auf das eigene Musizieren in einem fruchtbaren Hin und Her, bildet sich allmählich auch die Fähigkeit aus, sich Klänge innerlich plastisch vorstellen zu können. Diese Eigenschaft ist eigentlich in erster Linie Komponisten zu eigen, die davon leben, Musik im Kopf entstehen zu lassen – quasi im Kopf zu musizieren. Im Kopf zu musizieren, Klänge lebhaft antizipieren zu können, ist jedoch auch für das Interpretieren und Improvisieren von großem Nutzen.

 

Mit dem Wachsen dieser Vorstellungskraft entwickelt sich auch ein individueller authentischer Wille zum Ausdruck: jene künstlerische Urkraft, die jeder bedeutenden Kunstausübung zugrunde liegt.

 


 

 

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[1] Peter Wicke: Zwischen Aufführungspraxis und Aufnahmepraxis – Musikproduktion als Interpretation. In: Bork/Klein/Meischein/Meyer/Plebuch (Hrsg.): Ereignis und Exegese. Musikalische Interpretation – Interpretation der Musik, Festschrift für Hermann Danuser zum 65. Geburtstag, Schliengen 2011, S. 42-53.