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1. Teil: Die Evolution der Geschwindigkeit, oder:

Die Zukunft war früher auch besser…

(Karl Valentin)

 

von Stefan Goeritz

 

 

Was, wenn ein Mensch der Antike für eine gewisse Zeit in unsere heutige westliche Zivilisation versetzt worden wäre?

 

Angenommen dieser Mensch wäre nicht sofort verrückt geworden, er wäre nicht gestorben vor Schreck und Angst. Hätte überstanden den Anblick von Flugzeugen und Autos, Fahrrädern und Motorrädern. Hätte sich nicht verlaufen in den Schluchten der Häuser, in den Gängen und Fluren darin. Angenommen er hätte den Aufenthalt in seiner Zukunft, in unserer Gegenwart überlebt, wäre nicht überfahren worden, wäre nicht an einem Keim gestorben, gegen den sein Immunsystem machtlos gewesen wäre, er hätte das Essen verdauen können mit all den Rückständen und Zusatzstoffen, an die er nicht gewöhnt wäre, angenommen er hätte zurückkehren können in seine Welt, wovon würde er berichten? Ich stelle mir vor, er würde berichten von der Welt der rasenden Riesen. Von der nicht in Worte zu fassenden ungeheuerlichen Geschwindigkeit, mit der sich diese gigantisch großen Menschen bewegen. Vom fatalen Lärm, der dabei entsteht. Vom allgegenwärtigen Rauch in der Luft. Von den kleinen magischen Kästchen, das die Menschen mit den Daumen betrommeln, streicheln oder in das sie hineinsprechen. Dabei würde er ja nicht einmal etwas ahnen von der Geschwindigkeit, mit der Nachrichten, Informationen auf dem gesamten Planeten verbreitet werden, von der Geschwindigkeit, mit der Schicksale unzähliger Menschen in Bruchteilen von Sekunden durch ebenso unzählige maschinell generierte geschäftliche Transaktionen hin und her gewürfelt werden zugunsten einiger, einzelner weniger Individuen. Planet? Er wüsste wahrscheinlich genau, dass die Erde flach wäre und begrenzt und am Himmel hingen Lampen dafür…

 

Würde er sich freuen, wieder nach Hause zu kommen? Trotz eines deutlich weniger vielfältigen Nahrungsangebotes? Trotz einer höheren Lebenserwartung in unserer Welt heute?

 

Ich stelle mir vor, er würde nach seiner Rückkehr einer Schar von Menschen von seinen Erlebnissen berichten. Ich bezweifle, dass diese ihm glauben würden. Könnte mir aber vorstellen, dass sie während ihres Treffens gemeinsam singen würden oder und spielen oder und tanzen. Dass sie fortan in Liedern das Unglaubliche besingen würden, was dem vermeintlichen Propheten widerfahren war.

 

Die Geschichte ist nicht erfunden, sie ist kein Gedankenspiel, sie findet tatsächlich immer wieder und wieder statt, in unserem Land aber leider nicht oft genug. Der Mensch, der aus der Antike in unsere Zeit geschleudert wird, ist ein Neugeborenes. Liegt in seinem kleinen Bettchen neben dem seiner Mama im Kreiskrankenhaus. Das Kind ist wegen des großen Angebotes an Nährstoffen größer, als es vor 5000 Jahren wohl gewesen wäre, sonst aber zunächst völlig gleich. 5000 Jahre sind ein Wimpernschlag im Evolutionsprozess einer Spezies.

 

Wie viele Jahre wird es nun Zeit haben, um die epochalen Neuerungen der letzten Jahrtausende aufzuarbeiten? Um ein Mensch der Moderne zu werden? Um sich an die Geschwindigkeit zu gewöhnen, an den Lärm? An die unfassbare Vielfalt aus der Geschwindigkeit resultierender gleichzeitiger Ereignisse?

 

Zeitsprung. Das Kind sitzt im Kindersitz auf der Rückbank des Autos seiner Eltern. Es bewegt sich mit einem Tempo, das 200 Jahre zuvor noch als mit Sicherheit tödlich angesehen worden wäre. Seine Augen befinden sich in einer ständigen Flatterbewegung, der Blick sucht millisekundenlang Halt an einem draußen vorbeifliegenden Bild. Motorengeräusche, draußen ein Martinshorn, die Musik aus dem Radio hat „seiner Zeit“ die biologischen Vorfahren des Kindes noch wahlweise in Empörung, Entzücken, Ekstase oder Ohnmacht versetzt. Ganz zu schweigen von dem maschinengenerierten, aufdringlichen, von Maschinengeräuschen begleiteten Puls aktueller Pop-Produktionen. Mama oder Papa oder beide telefonieren. Oder sie sprechen miteinander. Oder streiten, weil sie im Moment ein bisschen gestresst sind. Diese ungeheuerlichen Eindrücke machen das Kind ziemlich nervös, diese Nervosität überträgt sich auf seine Eltern. Deshalb kaufen sie ihrem Kind vielleicht etwas. Vielleicht einen Gegenstand mit einem Bildschirm. Von diesem Bildschirm aus wird das Kind weiterhin mit Eindrücken beschossen, weshalb es Gott sei Dank nicht mehr nervt. Es sieht vielleicht sogar schon (z.B. weil es ältere Geschwister neben sich hat, oder eben auch nicht), wie Lord Voldemort Lily Potter ermordet, die Mama von Harry, es wird noch viele andere Morde emotional durchleben, bis später mal ein gewisser Gewöhnungseffekt eintritt. Oder es setzt sich mit dem Leben außerhalb unseres Planeten auseinander, mit „Starborg“, wie es später seinem Freund am Telefon versichert. Wahrscheinlich aber schaut es erst einmal nur dem Feuerwehrmann Sam beim Löschen zu. In sehr hoher Geschwindigkeit oder gleichzeitig wechseln Bilder. Der Sehsinn wird dominant, der Hörsinn eher abgestumpft.

 

Das Kind gewöhnt sich mit der Zeit daran, dass es zu jeder Sekunde mit epochalen Errungenschaften der Menschheitsgeschichte bombardiert wird. Es wird trainiert, all diese Eindrücke immer schneller und andauernd in sich aufzunehmen. Sein Weltbild, das in ihm gebildet wird (ein natürlicher Bildungsvorgang), wird schon im Alter von 6 Jahren das der kühnsten Visionäre, Wissenschaftler und Poeten einer nicht lange vergangenen Vorzeit übertreffen.

 

Zeitsprung zurück: Wie alt war das Kind auf dem Rücksitz? Immer jünger? In welchem Alter beginnt die Entwicklung zur Hochgeschwindigkeitseindrückesammelmaschine, die tadellos funktioniert? Die ziemlich wenig schläft. Mit einem ziemlich hohen Bedarf an schnell verfügbarer Energie für das Hochleistungsgehirn, Mama, krieg ich was Süßes?

Was tut das Kind mit all den Eindrücken, wohin mit den damit verbundenen existenziellen Fragen nach der Bedeutung des eigenen Ichs in dieser riesigen, komplexen, schnellen lauten Welt, in der jederzeit das Böse, Darth Vader z.B., im Kinderzimmer eines Freundes auftauchen kann? Wann hört die ständige Flut von Reizen auf, damit das Kind endlich beginnen kann, zu verarbeiten? Wann weiß es, wer es selbst ist, wo es selbst aufhört und der andere anfängt?

 

Willkommen in der Kita, willkommen im Kindergarten, schön, dass du da bist.

 

Bei all der Aufmerksamkeit auf das viele Gleichzeitige spürt das Kind sich selbst kaum. Seine Glieder gehorchen ihm nicht so recht und machen ständig Bewegungen, die es weder zur Kenntnis nimmt, geschweige denn beherrschen kann. Manchmal springt es einfach auf, fängt ohne Grund an zu schreien. Auch das nimmt es nicht so richtig wahr, weiß aber genau, welche anderen Kinder im Raum aufgesprungen sind. Seine überhöhte Aufmerksamkeit ist eine ständig geöffnete Schleuse für Reize von außen. Es weiß natürlich nicht, auf welchen davon es zuerst reagieren soll, das passiert quasi automatisch, ohne dass es begreifen kann. Begreifen. Mit den Händen anfassen kann es seine Welt schon seit dem Kleinkindalter nicht mehr. Die Welt ist jetzt viel zu groß geworden, zu schnell, zu komplex. Mit dem vorhandenen Spielzeug versucht es, Teile aus dieser riesigen Welt nachzustellen, Erwachsene verwechseln das manchmal mit Fantasie. Das Spielzeug ist meistens bunt, manchmal laut, damit sich das Kind nicht langweilt…

Seine Persönlichkeit aber wird geprägt von einem überreizten Gehirn, das keine Richtungen erkennen, das keine Entscheidungen treffen kann. Die Erwachsenen sprechen von nachlassenden motorischen Fähigkeiten bei Kindern. Die Erwachsenen diagnostizieren Aufmerksamkeitsdefizite, welch ein kolossaler Irrtum… Damit es sich in der Welt besser zu Recht finden kann, bekommt ein Kind nun vielleicht Drogen.

 

So weit muss es natürlich nicht kommen. Kinder sind ja so oft so ungeheuer stark, die schaffen das schon. Das Kind kommt irgendwann in die Schule. Dort fühlt es sich zunächst sehr wohl, da Schule wieder eine frische Quelle vielfältiger Eindrücke ist. Zwar ist schon zur Mittagszeit sehr erschöpft, es freut sich aber auf jeden anderen Schultag. Da in der Schule ja auch noch die vielen anderen Kinder aus der Antike sitzen, die herübergespült wurden, ist die Arbeit für die Lehrerin (meist sind es Lehrerinnen in der Grundschule) sehr anstrengend. Und da unsere Kinder ja noch nicht wissen, wie sie eintreffende Impressionen bewerten und beantworten sollen, sind sie ständig „woanders“, ständig produzieren sie dabei Töne und Geräusche, in der Schule entsteht immer wieder riesiger Lärm. Der Lärm wird zum Super-Reiz und produziert Stress. Bei den Lehrern und bei den Kindern. Die einen Kinder werden dadurch zusätzlich stimuliert und noch unruhiger, die anderen aber stumm, geradezu verängstigt. Beide Typen sind schlecht für die Lehrerin. Sie steht als weisungsgebundener Teil eines Bildungssystems enorm unter Zeitdruck. Deshalb muss sie nun vielleicht, um quasi die Bildungsstaatsgewalt durchzusetzen und dem sich ausbreitenden Chaos ein Ende zu setzen, tatsächlich so etwas wie Gewalt anwenden. Sie setzt gegen den Super-Reiz Lärm den Super-Reiz Angst. Vielleicht gar nicht einmal bewusst und vorsätzlich. Sie war, als sie das erste Mal geschrien hat, wirklich in Not, es war also Notwehr. Vielleicht ist schreien nicht so ihr Ding, es gibt auch subtilere Mittel, einem Kind Angst zu machen. Und dann ist sie ja auch noch irgendwann einmal gezwungen, die Leistungen der Kinder zu bewerten. Diese „Orientierungshilfen“ werden von der Umwelt oft als Notendruck bezeichnet. Diesen Druck bauen gleichermaßen Eltern und Lehrer auf, die dem Kind die katastrophalen Auswirkungen schlechter Noten lebhaft vor Augen zu führen wissen. Das ganze System hilft, den Super-Reiz Angst zu installieren. Parallel dazu wächst die Erschöpfung der Lehrerinnen.

 

Sollten die Eltern des Kindes beide berufstätig sein, so darf das Kind in dieser Umgebung den ganzen Tag bleiben, Ganztagesschule. Der Ganztagesschule angeschlossen ist eine Ganztagesbetreuung. Oft ist die dann so organisiert: Während die Lehrer nach Hause gehen gibt es in der Schule Mittagessen. In lockerer Atmosphäre. Ein bisschen laut. Danach Projektangebote, Karate, Fußball, Musik gleichzeitig. Das Kind darf sich entscheiden. Muss sich entscheiden. Lernt dabei immer wieder neue Leute kennen. Hallo, ich bin der Markus, wer von euch hat schon Fußball gespielt? Entgegen dem Wortsinn der „Betreuung“ sind die Betreuer meist gar nicht treu. Die Kinder aber auch nicht. Ich mach nicht mehr mit. Ich habe Bauchweh. Ich will in Karate.

 

Paradoxerweise beginnt das Kind in diesem Überangebot von Reizen dann irgendwann, sich ständig und überall schrecklich zu langweilen. Mit zunehmendem Alter der Kinder und der Erwachsenen wächst die Diskrepanz zwischen der Stimulationserwartung der Kinder (später Jugendlichen) einerseits und dem Leistungsvermögen der Erwachsenen andererseits ins Unüberbrückbare. Eltern werfen deshalb Lehrern vor, die Kinder aufgrund der dem Berufsstand Lehrer biologisch anhaftenden Faulheit, Fantasielosigkeit und Inkompetenz zu langweilen. Die Kinder zu sehr zu stressen. Zu brutal zu sein. Sich nicht durchsetzen zu können. Lehrer werfen den Eltern vor, aufgrund historisch gewachsener Unfähigkeit und fehlenden Urteilsvermögens ihre Kinder nicht oder falsch zu erziehen. Zu nachlässig zu sein. Zu streng. Zu ehrgeizig, zu uninteressiert. Beide Seiten erwarten vom jeweils anderen, die Kinder der Antike in die Moderne zu führen. Vor der Moderne zu schützen…

 

Dieses beschriebene System der Beschleunigung bis hin zur Gleichzeitigkeit, dem Grenzwert der Beschleunigung, ist eigentlich recht nützlich für unsere Gesellschaft. Dem steigenden Investitionsbedarf im Themenbereich Bildung, wozu auch die Frühpensionierung ausgebrannter Lehrer gehört, stehen immerhin riesige Einnahmen des Staates gegenüber, der von dem reizgesteuerten Konsumverhalten der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen profitiert. Wettbewerbsfähigkeit in einer globalisierten Wirtschaft und Wirtschaftswachstum sind dabei die Leitlinien der politischen Entscheidungsträger. Die Kosten dafür, den Ressourcenverbrauch und den Wachsenden Müll, bezahlen größtenteils nicht die Menschen der Antike oder die Menschen der Gegenwart, sondern die Menschen der Zukunft. Dieser Prozess wird in seiner Unausweichlichkeit neuerdings gerne als Nachhaltigkeit bezeichnet. In zahlreichen Kursen zu Multitasking und Achtsamkeit werden die Menschen für diese Fragestellungen sensibilisiert.

 

Blöd nur, dass vieles nicht zusammenpasst, wenn es gleichzeitig laufen soll. In einer beschleunigten Gesellschaft steht ständig jemand blöd im Weg herum. Oder fährt blöd vor einem her. Die Aggression ist allgegenwärtig. Statt miteinander zu sprechen, zwitschert man. Tauscht Schlagworte. Kommentiert. Während einer Zwitschert wird er von den anderen schon mal kräftig angeschissen, Shitstorm! Keine Zeit zuzuhören. Nachzudenken. Gesellschaften, welche Freiheit als Freiheit von Wirtschafts- und Erwerbshindernissen sowie als Freiheit von Beschränkungen des privaten Waffenbesitzes begreifen, (die paradoxe Freiheit des Dürfenmüssens versus die Freiheit vor alltäglicher tödlicher Bedrohung) treffen auf Gesellschaften, welche eine Freiheit von sämtlichen Glaubens- und Religionshindernissen etablieren wollen, autoritär definiert und ebenfalls potenziell oder real mit Waffengewalt erzwingbar. Es gilt als unakzeptabel, dass andere Gesellschaften soziale Errungenschaften noch nicht installiert haben, die man selbst erst seit kurzer Zeit gut findet. In einer globalisierten Welt (welch ein Pleonasmus!) gibt es kein Nebeneinander, es gibt nur die Gleichzeitigkeit. In ihr herrscht das Gesetz des Stärkeren, Survival of the Fastest, im Kleinen wie im Großen.

 

Schluss mit diesem Exkurs, zurück zur Geschichte des Kindes aus der Antike. Es hat sich, während wir hier über Gott und die Welt philosophieren, die Zeit im Internet vertrieben, Musik gehört, mit Freunden gechattet, ein paar Selfies geschossen, etwas zu essen gekauft und sein Referat über die Bodenschätze von Nigeria vorbereitet.

 

Es ist mittlerweile 13 Jahre alt und sitzt gerade bei mir im Gitarrenunterricht.

 

Natürlich kenne ich es nicht erst seit gerade eben. Seine Eltern hatten es schon vor sieben Jahren an der Musikschule angemeldet. Sie hatten sich mit anderen Eltern darüber ausgetauscht, wie wichtig es ist, dass Kinder heutzutage Musik machen. Sie selbst machen keine. Mehr. Hören aber sehr gerne Musik. Haben nur so wenig Zeit dazu. Das Kind kommt immer gerne zum Unterricht, sagen die Eltern. Aber das Üben! Was wir da immer für Kämpfe haben, sagen die Eltern. Aber jetzt geht es echt nicht mehr, es hat einfach zu viel anderes im Kopf, zu tun, jeden Tag. Es hat jetzt keine Zeit mehr. Auf wann kann ich kündigen?

 

 

2. Teil: Von der menschlichen Notwendigkeit der Synchronisation

 

Also lass uns sprechen. Hör mir bitte einen Moment zu. Wenn ich dir irgendetwas geben soll, dann brauchen wir Zeit. Du brauchst Zeit. Zeit ist für die Musik wie Wasser für das Schwimmen. Stell dir vor, deine Eltern hätten dich zum Schwimmkurs angemeldet. Ja, mein Kind ist sehr begabt für das Schwimmen, es schwamm eigentlich schon vor der Geburt. Deshalb, um es jetzt einmal richtig zu lernen, soll es einen Schwimmkurs besuchen. Der soll ihm vor allem viel Spaß bringen. Und natürlich nützlich sein, damit es nicht irgendwann einmal ertrinkt. Aber gell, gehen Sie bitte nicht ins Wasser mit ihm, das mag er nicht und wir haben sowieso nicht viel Wasser zu Hause…

Ist schon klar, das kann so nichts werden, Wasser, Zeit muss irgendwie da sein.

 

Weißt du, das Ding ist nämlich, dass Musik an sich immer eine Weile dauert, z.B. 4 Minuten und 33 Sekunden, nur so zum Beispiel. Diese Zeit brauchen wir schon einmal. Um aber fünf Minuten Musik machen zu können muss man ja etwas können, und dieses Können muss man lernen, und was man gelernt hat, muss man üben. Da hängt also noch einmal ein ganzer Rattenschwanz von Zeit dran. Und wenn du das ganze jemandem vorspielen willst, muss der sich auch noch einmal 5 Minuten Zeit nehmen, und wenn ein ganzer Saal gefüllt ist mit 300 Leuten kommen schon mal 1500 Minuten Zeit zusammen, das sind 25 Stunden, die Menschen investieren für ein kleines Musikstück. In der Zeit verdient niemand von den versammelten Leuten was, wahrscheinlich nicht einmal du auf der Bühne. Vielleicht der Zeitungskritiker ein bisschen. Der Vermieter des Saals. Die anwesenden Shareholder, falls die Aktien gut laufen. In der Zeit sollten sogar alle elektronischen Geräte ausgeschaltet sein, so wie im Flugzeug. Vielleicht verpassen Menschen deshalb wichtige Nachrichten über den momentanen Aufenthaltsort ihrer Freunde. Geile Hose nur 9,99 lol. Also zu was soll dein Konzert eigentlich gut sein?

 

Hast du mich einmal gefragt.

 

Und das ist eine verdammt wichtige Frage.

 

Schwer, eine gute Antwort zu finden.

 

Ich will ehrlich sein, wahrscheinlich gibt es gar keine objektive Antwort. Ich kann dir nur sagen, was ich selbst glaube. Worüber wir uns nämlich zuerst Gedanken machen müssen, ist die Frage, ob Menschen überhaupt zu irgendetwas nütze sind. Wäre die Welt nicht besser dran ohne uns? Viele Menschen beantworten diese Frage eindeutig mit ja, wofür sie vor 300 Jahren noch auf dem Scheiterhaufen gelandet wären. Es ist wirklich sehr schwierig, diesen Menschen zu erklären, wofür Musik oder Kunst überhaupt gut sein soll. Gott sei Dank fragen gerade die aber nicht so oft, sondern vergraben, flüchten sich häufig geradezu in Musik, als sei sie eine gottgegebene Gegenwelt, wo enttäuschte, traurige Menschen überleben können. Und die anderen? Denen würde ich gerne von meiner Überzeugung erzählen, dass die Menschheit ohne Musik arm dran wäre. Wenn sie überhaupt wäre! Musik haben die Menschen wahrscheinlich schon gemacht, als sie noch eher gegrunzt als gesprochen haben.

 

Deshalb glaube ich auch, dass wenn die Musik stürbe bald darauf auch die Sprache weg wäre. Und umgekehrt.

Deshalb finde ich es auch so beängstigend, wenn Hebammen mittlerweile Kurse anbieten, um den Müttern zu erklären, dass sie ab und zu noch mit ihrem Baby sprechen sollten anstatt ständig ihr Handy zu streicheln.

Deshalb würden Menschen, die lieber zwitschern als sprechen, wahrscheinlich nichts dagegen haben, Musik in Tablettenform einzunehmen, weil sie so gesund ist.

 

Wer miteinander sprechen, sich mit jemanden verständigen will, der braucht Zeit. Genauso wie in der Musik… Musik machen hat also für mich sehr viel mit Mensch sein zu tun, wenn du Musik machst, bist du Mensch, in einem Konzert schaffst du menschliche Begegnung, wie sie nur dort passieren kann… Wenn dir also Menschen wichtig sind…

 

Zeit, Geschwindigkeit, Leistung, in der Physik sind das eng verzahnte Begriffe. Und natürlich auch in unserer Gesellschaft. Was erwartet sie dabei von uns Musikern? Wir haben ja schon gesehen, dass es in unserem Hochgeschwindigkeitsbetrieb immer schwieriger werden wird, noch irgendwo Musik unterzubringen. Weil Musik immer irgendwie bremst. Trotzdem wissen alle plötzlich, dass es ungeheuer wichtig ist, dass du Musik machst! Wie ist das möglich?

 

Um zu überleben, haben wir Musiker uns einen Trick ausgedacht. Wir haben statt Musik zu machen, Studien betrieben. Das Ergebnis dieser Studien ist folgendes:

Einerseits versprechen wir deinen Eltern, dass wir dich herunterbremsen, damit du nicht nur am Computer herumhängst, Andererseits versprechen wir, dich schlau und gesund, dich fit, schnell genug für die Zukunft zu machen. Wir bremsen dich, damit du schneller wirst. Wie konnten wir uns nur dazu hinreißen lassen, solch einen Unsinn zu erzählen? Wie gesagt, aus der Not heraus. Und dann auch, weil er paradoxerweise auch noch wahr ist. Wie lässt sich dieses Paradox am leichtesten erklären? Die einfachste Möglichkeit dazu hat uns Albert Einstein gegeben.

 

Zeit, so beschreibt er es in seiner speziellen Relativitätstheorie, ist nur vergleichbar für Dinge, die sich gleich schnell bewegen. Gilt das auch für Menschen? Ein Fahrradfahrer sieht die Welt nur wie der Fußgänger, wenn er freiwillig Schrittgeschwindigkeit fährt. Dann werden beide auf die gleiche Weise Autos oder Kinder betrachten. Ansonsten erlebt der Fußgänger den Fahrradfahrer als störend. Und umgekehrt. Weil sich der Fahrradfahrer aus der Sicht des Fußgängers relativ schneller bewegt, vergeht die Zeit für den Fahrradfahrer aus der Sicht des Fußgängers langsamer. Mit der gleichen Geschwindigkeit aber bewegt sich der Fußgänger relativ zum Radfahrer. Aus der Sicht des Radfahrers vergeht also die Zeit für den Fußgänger langsamer. Das ist ein Naturgesetz, und dieses Gesetz bestimmt, dass Eltern immer auf den Boden starren, wenn auf einer gleichnamigen Beiratssitzung gefragt wird, wer Vorsitzender sein will. Denn wenn Menschen sich im Leben unterschiedlich schnell bewegen, hat der andere immer mehr Zeit. Deshalb soll es immer der andere machen. Und der Witz dabei ist: Jeder hat dabei sogar Recht!

 

Das Gedankenspiel lässt sich noch weiterspinnen: Menschen bewegen sich oft gleich schnell, jedoch in unterschiedlichen Systemen. Wie wenn zwei Schaffner durch zwei Züge gehen, der eine im Regionalexpress, der andere im ICE. Beide gehen gleich schnell, aber der eine im stehenden Zug, der andere auf dem Überholgleis. Deshalb verstehen z.B. Beamte die Manager nicht, die Manager nicht die Beamten und keiner von beiden die Pfarrer. Aber alle sind gestresst und völlig außer Atem, weil sie versuchen, in ihrem jeweiligen System möglichst schnell vorwärts zu kommen. Relativ zueinander leben sie in völlig verschiedenen Zeitvorstellungen. Ebenso verhält es sich mit dem Begriff der Leistung. Sie ist in der Physik definiert als Arbeit pro Zeiteinheit. Ist die Zeit nicht vergleichbar, sind auch die Leistungen, der Menschen nicht vergleichbar.

 

Dieses Naturgesetz gilt bei konstanten Geschwindigkeiten der Systeme. Bei beschleunigten Systemen wird die Sache noch wesentlich komplizierter.

 

Sei’s drum. So genau wolltest du es vielleicht gar nicht wissen. Physikalisch liegen die Zeitdifferenzen bei Geschwindigkeiten, die von Menschen erreicht werden können, im kaum messbaren Bereich. Psychologisch liegen zwischen Menschen verschiedener Lebensgeschwindigkeiten Welten.

 

Deshalb haben wir schon immer versucht, uns dadurch näher zu kommen, dass wir uns einen gemeinsamen Rhythmus geben. Gemeinsame Schwingung, gemeinsame Frequenz, für die Dauer des gemeinsamen Musizierens erlebt man das Glück, nicht nur gemeinsam Zeit, sondern sogar dieselbe Zeit gemeinsam zu verbringen, zu erleben. Das gleiche gilt, wenn wir gemeinsam Musik hören, auch wenn da die Gefahr natürlich größer ist, dass die innere Geschwindigkeit in den Köpfen sich nicht einlassen kann auf die musikalische Zeit, man konnte dann gar nicht richtig zuhören, ist gar nicht richtig reingekommen ...

Was ich dir also sagen möchte, ist dass Menschlichkeit etwas mit Synchronisation zu tun hat. Musik ist dazu ein fantastisches Mittel. Wenn Menschen gemeinsam musizieren, lassen sie sich darauf ein, sich eine zeitlang (möglichst) gleich schnell bewegen. Sogar gemeinsam zu atmen…

Was du dazu brauchst, um das Musizieren zu erlernen, ist neben der Zeit auch die Disziplin, discipulus ist im Lateinischen der Schüler, Disziplin die innere Haltung des Schülers. Sie besteht aus deiner Bereitschaft, dich auf die Lebensgeschwindigkeit deines Lehrers herabzulassen, denn oft sind wir älter als du. Soweit könnte man das Ganze auch Geduld nennen. Gleichzeitig versuchst du dich zu der höheren Geschwindigkeit unseres Könnens heraufzuarbeiten, die aus unserem zeitlichen Vorsprung dir gegenüber resultiert.

 

Wir Lehrer tun dann genau das gleiche umgekehrt. Wir versuchen, uns auf deine Lebensgeschwindigkeit einzulassen, dabei unsere Geschwindigkeit im Bereich des Könnens, das du erlernen möchtest, deiner so weit anzupassen, dass du nicht überfordert wirst und nicht den Mut verlierst. Diese Fähigkeit zur Anpassung auf unserer Seite ist nur so weit als Disziplin zu bezeichnen, als jeder Lehrer in und aus jeder Situation lernt und deshalb ein Stück weit immer auch Schüler ist. Vielmehr wird dieses Können bei Lehrern der Pädagogik, Methodik, Didaktik zugeordnet. Man kann es erlernen, üben, studieren.

Gegenseitige Synchronisationsprozesse sind selbstverständlich viel einfacher, wenn sich Schüler gegenseitig unterrichten, ich möchte dich sehr gerne ermutigen, das zu probieren!

Wenn wir dann gemeinsam unsere Geschwindigkeit anpassen an die langsameren in der Gemeinschaft, die alten, behinderten, belasteten Menschen und wenn wir uns dadurch bemühen, sie dort als Menschen zu treffen, um mit ihnen die Zeit zu teilen, so könnte man das Solidarität nennen. Schon wieder so ein Begriff der Menschlichkeit, immer wieder stoßen wir darauf, wenn wir über Zeit, über Musik sprechen.

 

Entschuldige bitte, dass ich so viel Zeit von dir brauche, um dir zu sagen was ich denke. Ich rede ziemlich viel, ich weiß… Eigentlich wollte ich jetzt Schluss machen, und nun sagst du mir, dass das alles sehr gut klingt, du kannst aber nicht bremsen, weil du schon wieder los musst, du schreibst morgen Französisch…Außerdem ist dein Referat über die Bodenschätze von Nigeria noch nicht ganz fertig und es gibt ja nächste Woche auch noch die GFS über die Gitarre. Ob ich dir dabei helfen kann: Natürlich, du weißt, dass ich das gerne tue, klicke einfach hier. Und hier (kanntest du den schon?). Sende die Links an alle Facebook-Freunde, die sich dafür interessieren und an die anderen, die sie nicht anklicken werden. So, erledigt, es gibt nämlich wirklich wichtigeres zu tun.

 

Darf ich dir einen Tipp geben? Wenn du diesen ungeheuren Zeitdruck aus der Schule spürst, dann mach dir einfach klar, wie sehr du gebraucht wirst. Diese Beschleunigung im Bildungssystem, die sich z.B. G-8-Gymnasium nennt, kommt nämlich nur daher. Unsere Wirtschaft braucht dich und deine Freunde, möglichst schnell möglichst viel hoch qualifiziertes Personal, das möglichst früh in so genannten Praktika seine Arbeitskraft kostenlos zur Verfügung stellt. Wie schon oben gesagt: Unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit (in dieser „globalisierten Welt“) hängt davon ab. Das ist tatsächlich wichtig für uns alle, auch für die Träger dieser Musikschule und deren Nutzer. Früher, als noch nicht alle Menschen aufs Gymnasium gehen mussten, sind die Menschen, so wie meine Mutter, schon mit 14 ins Berufsleben eingestiegen. Das ist heute auch noch möglich, aber nicht mehr so erwünscht, weil es gar nicht mehr so viele Jobs gibt, für die weniger schulische Qualifikation als ausreichend erachtet wird. Heute gehen alle viel länger auf die Schule, eigentlich eine gute Sache. Nur leider sollen aus diesem System heute möglichst viele 21-jährige fertige Akademiker hervorgehen, die schon mindestens ein Jahr Auslandsaufenthalt hinter sich haben. Für mich hatte zu meiner Zeit der Staat noch bestimmt, dass ich erst mit 21 anfangen darf zu studieren, nach meinem Abi mit 19 kamen damals noch 20 Monate Zivildienst hinzu. Früher sind Akademiker eben erst mit 25, 26 Jahren oder später ins Berufsleben eingestiegen. Um nun in unserem Bild zu bleiben: Was passiert denn in diesem System? Du wirst so lange beschleunigt, bis du nicht mehr bremsen kannst, man beklagt sich über deine mangelnde Disziplin. Das Schul- und Hochschulsystem wird so stark beschleunigt, bis es nicht mehr bremsen kann. Man beklagt das Fehlen jeglicher pädagogischer Konzepte in den Bachelor-Studiengängen. Zwei Systeme, zwei Züge, die aus unterschiedlichen Richtungen kommend aneinander vorbeirauschen. Gott sei Dank hast du in „Mission Impossible“ gelernt, was du nun tun musst: Springe von dem einen Zug auf den anderen und du wirst ein Held (wenn du nicht danebenspringst, wie die anderen im Film, aber die sind meistens Bösewichte) Leider wirst du dann aber nicht in Liedern besungen, sondern mit einer Steuer- und Sozialversicherungsnummer versehen, die Steuer-Id trägst du schon von Geburt an. Der Staat braucht dich nämlich auch. Hast du schon einmal etwas von demographischem Wandel gehört? Ja genau, du musst irgendwann mal unglaublich viel Geld verdienen und davon das Meiste abgeben, damit wir Alten nicht am Hungertuch nagen. Damit es nicht mehr so viele von uns gibt, wird das Eintrittsalter in die Rente ständig nach hinten verlegt, im Moment ist es 67, 70 wird schon diskutiert, bis du mal so weit bist, liegt es bestimmt schon bei 80 Jahren. Nun ist es aber auch so: Weil es so viele von uns Alten gibt, kann keine Partei die Wahlen ohne uns gewinnen. Also macht man uns gerne mal Geschenke und du kannst ja vielleicht doch schon mit 66 in Rente gehen, weil du da dann deine 45 Berufsjahre absolviert haben wirst… Man wird sehen, wie klug und gebildet die Politiker der Zukunft sein werden. Aber eines ist jetzt schon klar: Wer sich so schnell bewegen muss wie du, wird keine Gelegenheit zu Solidarität haben, wenn die alte Dame vor dir im Supermarkt ihren Geldbeutel auf dem Kassenband ausleert. Das Wort existiert nur im Zusammenhang mit angeordneten Zwangsabgaben.

Du wirst also gebraucht, das ist doch eigentlich etwas schönes...  Aber du musst dich selbst darum kümmern, die Kraft für diese riesigen Aufgaben zu bekommen.  Du als junger Mensch musst dir die Welt vorstellen, in der du leben willst und dann beginnen, sie mitzugestalten. Also lass dich nicht zu sehr bedrängen, wenn du bremsen möchtest. Auch wenn viele versuchen, dir Angst vor dem Versagen einzujagen, in Wirklichkeit ist es ihre eigene Angst, die sie dir weitergeben, denn niemand kann wirklich auf dich verzichten.

 

 

Ich finde also, du solltest das Konzert spielen. Wir sollten uns (weiterhin) treffen. Wenn wir uns treffen wollen, musst du bremsen, denn ich bin nicht so schnell wie du. Du musst selbst bremsen, es muss dein Wille und deine Bereitschaft sein, ich möchte mich dir nicht in den Weg oder dir ein Bein stellen.  Wenn wir uns dann getroffen haben, muss wiederum ich bremsen, denn du bist in der Musik noch nicht so schnell wie ich. Deine Disziplin, meine Pädagogik, unsere Solidarität. Wir könnten, sozusagen, eine Musik lang gemeinsam das Menschsein (er)leben. Das wäre wunderschön und mein großer Wunsch!

 

Ich möchte einen Ort schaffen, wo wir uns treffen können, wo ich selbst gerne bin und du ankommen kannst, wo jeder seine Zeit hat und wir keinen Zwang aufeinander ausüben. Die Liebe zu dem, was ich tue und zu den Menschen, die es mit mir gemeinsam tun, soll dabei mein Leitfaden sein.

 

Wie dieser Ort von außen wahrgenommen wird möchte ich nicht beeinflussen, dann hätte ich schon wieder eine dieser Diskussionen über „Bildungsziele“. Vielmehr soll jeder irgendwann für sich selbst beurteilen, was er von hier mitgenommen haben wird. Vielleicht hat es die einen fit gemacht für die Zukunft. Sie haben hier in improvisatorischem Spiel Reaktionsfähigkeit, Schlagfertigkeit trainiert. Ihre sprachlichen Fähigkeiten, ihr räumliches Denkvermögen, ihr Gedächtnis auf konkurrenzlose Höhen entwickelt. Andere werden hier einen Ort gefunden haben, wo sie sich der Beschleunigung und der Geschwindigkeit widersetzen durften, wo ihre Hoffnung auf das Andere Heimat und Nahrung fand.

 

Ich möchte nicht kontrollieren, was jemand in diesem Haus für sein Leben lernt und mitnimmt. Jeder muss sein Leben leben, ich lebe meins. Draußen zwitschert eine Amsel. Wir sind nicht allein. Wie entspannend, wie tröstlich: Es gibt ein Zwitschern, einen Rhythmus, eine Musik jenseits der von Menschen gemachten, Zeit jenseits unserer vielen Zeiten.

 

Was sagst du dazu?