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Hab Geduld meine Wege zu begreifen
von Klara Baumann
Hilf mir, es selbst zu tun. Zeige mir, wie es geht. Tu es nicht für mich. Ich kann und will es allein tun. Hab Geduld meine Wege zu begreifen. Sie sind vielleicht länger, vielleicht brauche ich mehr Zeit, weil ich mehrere Versuche machen will. Mute mir Fehler und Anstrengung zu, denn daraus kann ich lernen.
Beobachte ich meinen kleinen Sohn bei seinen ersten Lernprojekten – sei es zu entdecken, dass man Hände und Beine hat, wie man diese und für was man sie benutzen kann, wie man sitzend und dann stehend das Gleichgewicht hält, wie man von einem Löffel isst, aus einem Glas trinkt… – bin ich immer wieder fasziniert, mit welcher Eigenständigkeit er solch komplexe Vorgänge lernt, wie er einem scheinbar innerlich vorhandenem Plan folgt, mit welch einem Eifer, mit welch hoher Frustrationstoleranz er zur Sache geht und wie erfolgreich er all diese Dinge in so kurzer Zeit meistert! Seine Umgebung, seien es Spielzeuge oder – viel interessanter noch als Spielzeug – Alltagsgegenstände und die anderen kleinen und großen Menschen lösen in ihm eine unhaltbare Motivation aus, sich beständig weiterzuentwickeln. Und dies, ohne dass es einen Lehrplan gibt und Lehrer, die für die Einhaltung dieses Lehrplans durch verschiedene Handlungen sorgen. Es passiert quasi von alleine – vorausgesetzt, für sein generelles Wohlbefinden und Schutzbedürfnis ist gesorgt und es gibt diese unglaublich interessante und spannende Umgebung (für unseren Sohn ist das unsere Wohnung und die Welt da draußen).
Die eingangs zitierten wohl bekanntesten Sätze von Maria Montessori wollen die kleinkindliche Art des Lernens für institutionalisiertes Lernen fortschreiben. Der Lernende spricht – nicht der Lehrende! – er formuliert seine Bedürfnisse an den Lehrenden – nicht der Lehrende plant den Lernweg des Lernenden. Hilf mir, es selbst zu tun. Zeige mir, wie es geht. – der Lernende wendet sich Unterstützung suchend an den Lehrenden – aber Tue es nicht für mich. Ich kann und will es alleine tun. – der Lehrende soll unterstützen, aber dabei dem Lernenden dessen Eigenständigkeit belassen und hilft vielleicht nur durch Anwesenheit und Aufmerksamkeit – Hab Geduld meine Wege zu begreifen – der Lernende bittet den Lehrenden, sich auf seinen inneren Plan einzustellen, er soll sich in den Lernenden hineinversetzten, ihn zu verstehen suchen, (nicht der Lernende soll herausfinden müssen, was der Lehrende von ihm will), der Lehrende soll vertrauen, dass der Lernende selbstständig dort ankommt, wo er hin möchte (und dieser Ort ist nicht unbedingt derjenige, der dem Lehrenden naheliegend erscheint) und dabei mit Gelassenheit sehen, dass dieser Weg – auf den ersten Blick – in ökonomischem Denken vielleicht nicht der schnellste und effizienteste ist, denn auf den zweiten Blick ist er doch wesentlich sinnvoller – Mute mir Fehler und Anstrengung zu, denn daraus kann ich lernen.
Besonders der instrumentale Einzelunterricht eignet sich dazu, anstatt den Lernweg – die Lerninhalte, deren Reihenfolge und die Art der Aneignung – vorzugeben (wie
wir es von den meisten Bildungsinstitutionen gewohnt sind), sich ganz auf die individuelle Lernweise des Lernenden einzustellen. In diesem Szenario bietet die Musikschule eine Umgebung, die es
vermag jeden Lernenden zu dem anzuregen, was seinem derzeitigen Lernanliegen entspricht (die vorbereitete Umgebung ist auch ein Stichwort Montessoris). Es gibt Material, aus dem die Lernenden
frei wählen können. Nicht nur Notenmaterial, auch Anregungen und Ideen zum Spielen ohne Noten, zum Komponieren, zum Hören; auch Ensemblespiel, auch Literatur, auch andere musizierende Menschen,
auch Rückzugsmöglichkeiten gehören zum Material. Die Musikschule bietet einen geschützten Raum, die Lehrenden – vielmehr vertrauenswürdige Begleitpersonen – sorgen für eine Atmosphäre des
Wohlbefindens und der Inspiration. Bei Ratlosigkeit oder Orientierungslosigkeit können sich Lernende an sie wenden, diese können durch Zuhören unterstützen, durch Fragen anregen, Impulse bieten,
die der Lernende je nach Bereitschaft aufgreifen kann oder nicht. Der Lernende lernt so frei von äußeren Zwängen, eigenverantwortlich, nach seinem eigenen inneren Plan. Die Bildungsinstitution
(und die Eltern) vertrauen in aller Gelassenheit auf die in jedem Menschen angelegte Neugier auf Neues und das Bestreben nach Entwicklung – womit wir so offensichtlich geboren
werden.