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Multimediale Lernportfolios

 

von Andreas Doerne

 

 

Ein Lernportfolio ist dazu da, das Lernen eines Menschen in Bezug auf einen bestimmten Lernbereich zu dokumentieren und somit sichtbar, kommunizierbar und reflektierbar zu machen. Grundlage dafür ist das kontinuierliche Sammeln von Materialien, Arbeitsergebnissen, Fotos und Beschreibungen, wobei es gleichrangig sowohl um den Prozess als auch um die Produkte des Lernens geht. Ziel ist, dass Menschen sich ihres eigenen Lernens bewusst werden, es zum Gegenstand eigener sowohl kritischer als auch wertschätzender Überlegungen machen und infolgedessen mehr und mehr verstehen. Denn geht es um etwas subjektiv als wichtig Empfundenes – was ein Charakteristikum jeden bedeutsamen Lernenvorgangs ist –, sind Lernende normalerweise intensiv in ihren Lernprozess involviert, stark mit sich selbst identifiziert und eng darauf bezogen, das gewünschte Lernergebnis zu erreichen. In Folge dessen wird der Lernprozess entweder gar nicht oder nur nebenbei in seinem Vollzug vom Lernenden selbst wahrgenommen.

 

Ernsthaft angewendet, können Lernportfolios Lernen in Bildung verwandeln, weil mit der Dokumentation und Reflexion des eigenen Lernens nicht nur eine engere Verbindung der Person zu sich selbst, sondern auch des Lernenden zu seinem Lerngegenstand angebahnt wird. Wie bei anderen Lernaufgaben auch, ist es dabei am wirkungsvollsten und nachhaltigsten, wenn Lernende ihr Lernportfolio selbsttätig anfertigen und die Arbeit daran intrinsisch motiviert ist. In letzter Konsequenz regen Lehrende die Erstellung von Lernportfolios lediglich an, statt sie in Auftrag zu gegeben, und lassen den Lernenden frei darüber bestimmen, ob überhaupt und wenn ja wem sie einen Einblick ins Lernportfolio gewähren. Diese konsequente Form tritt jedoch leider nur selten in Erscheinung, weil Lernportfolioarbeit primär im schulischen und hochschulischen Kontext zum Einsatz kommt, und dort vor allem als „pädagogisch fortschrittlicher“ Ersatz für schriftliche Tests, mündliche Prüfungen oder Klausuren eingesetzt, man könnte mit einiger Berechtigung auch sagen: missbraucht wird. Denn nur eine Lernportfolioarbeit, die ohne Hintergedanken von Lehrpersonen in Richtung Leistungsnachweis beziehungsweise benoteter Leistungsüberprüfung stattfindet, bewahrt in Gänze die Würde der Lernenden, die in ihrem Lernportfolio ja sehr persönliche Dinge zur Sprache bringt.

 

Der Blick zurück

Zudem entfalten Lernportfolios ihren Sinn vor allem dann, wenn sie über einen längeren Zeitraum hinweg geführt werden. Viele Mechanismen eigenen Lernens werden erst aus einem gewissen zeitlichen Abstand heraus klar, wenn man nicht mehr so intensiv mit dem Lernprozess identifiziert ist und eine produktive Distanz zu ihm aufbauen kann. Das gleiche gilt für die eigene Wertschätzung gegenüber selbst hervorgebrachten Lernprodukten wie beispielsweise einer Audio-Aufnahme, deren Stärken vor allem von (über)kritischen Lernern häufig erst wahrgenommen werden können, wenn sie sie für ein paar Wochen oder Monate weggelegt haben. Langfristig geführte und gepflegte Lernportfolios stellen eine zur Materialhaftigkeit geronnene Lernbiografie dar, anhand derer man die eigene instrumentale und musikalisch-künstlerische Entwicklung jederzeit bis ins hohe Alter hinein klingend nachvollziehen kann.

 

Der Blick nach vorn

Es ist aber nicht nur der Blick zurück in die eigene Vergangenheit, der Lernportfolios zu einem wertvollen Bestandteil von Bildungsarbeit macht. Lernportfolios können darüber hinaus auch das zukünftige Lernen einer Lernportfolioschreibenden positiv beeinflussen. Zum einen indem die Lernende aus der Reflexion des Vergangenen ein konkretes Handlungswissen zieht, das sie in zukünftigen Lernsituationen bewusst einsetzt. Zum anderen indem sie sich durch Lernportfolioarbeit daran gewöhnt, das eigene Lernen in der Gegenwart zumindest mit einem Teil des eigenen Bewusstseins permanent zu beobachten. Lernportfolioarbeit führt so fast ganz von selbst dazu, dass Menschen sich selbst Lehrer werden. Und dass sie nicht nur ihren vergangenen Bildungsgang reflektieren, sondern ebenso die vor ihnen liegenden Bildungsprozesse autonom und kompetent gestalten.

 

 

Aus welchen Gründen nun ist dieses im Kontext Musikschule weitgehend ungenutzte pädagogische Werkzeug von Lernportfolioarbeit für das Musizierenlernen sinnvoll? Wie könnte eine Lernportfolioarbeit innerhalb eines Musizierlernhauses konkret aussehen? Und was hat das alles mit digitalen Medien zu tun?

 

Lernportfolioarbeit per digitalem Archiv

Meine Idee dazu ist folgende: Ab dem Zeitpunkt der Anmeldung im Musizierlernhaus werden Musizierlernende dazu angeregt, ein multimediales Lernportfolio zu erstellen, das verschiedenes beinhalten: Fotos von mit Gewinn genutzten Lernmaterialien, Fotos von subjektiv als bedeutsamen erlebten Lernsituationen, eine chronologische Liste aller erarbeiteten fremden Stücke, Partituren bzw. Skizzen der Eigenkompositionen, Audiomaterial und Videos vom eigenen Spiel, finale Mix-Down-Dateien selbst produzierter Musik. Was mir vorschwebt, ist die Einrichtung eines personenbezogenen Online-Archivs für jeden Schüler, ein personalisiertes virtuelles Ablagefach, das nur von seinem jeweiligen Besitzer bestückt und eingesehen werden kann, das aber eine One-Click-Option zur Veröffentlichung des eingestellten Materials beinhaltet, mittels der ausgewählte Dokumente des Lernarchivs auf gängige soziale Netzwerke hochgeladen und so mit Freunden geteilt werden können. Dieser digitale Lernportfoliobereich sollte in die Website des Musizierlernhauses integriert sein, müsste aber auch über eine App ansteuerbar sein, damit die Bestückung des eigenen Lernportfolios sich so unkompliziert und niederschwellig wie möglich mittels Smartphone gestalten lässt.

 

Exkurs: Audioaufnahmen

Ein zentraler Bestandteil des digitalen Lernportfolios sind Audio-Einspielungen aller bisher erarbeiteten Stücke durch die Lernenden selbst. Dies bedeutet, dass die Erarbeitung jeden Stückes einer jeden Schülerin (und auch eines jeden Lehrers!) des Musizierlernhauses immer durch eine Aufnahme abgeschlossen wird. Mittels des allmählich wachsenden Archivs an eigenen Aufnahmen können Lernende so ein Gespür für die Dynamik eigener Entwicklungsprozesse bekommen. Und sie können ihrem eigenen Spiel durch die Aufnahme einmal wirklich, das heißt mit ungeteilter Konzentration zuhören – eine Qualität, die beim Spielen manchmal schwer zu realisieren ist, da man als Spielerin oft zu sehr mit einem motorischen und ästhetischen „Richtigmachen“ beschäftigt ist, das zuweilen so viel Aufmerksamkeitskapazität bindet, dass fürs Hören wenig übrig bleibt. Als Nebeneffekt ist eine sorgfältige Aufnahme des erarbeiteten Stückes gleichzeitig die beste Vorbereitung für ein eventuelles Vorspiel.

 

Im oben ausgeführten Sinne von Lernportfolioarbeit ermöglichen sorgfältig und regelmäßig produzierte Aufnahmen nicht nur ein Erkennen von Schwächen des eigenen Spiels, sondern vor allem auch ein allmähliches Wahrnehmen der Stärken. Letztlich können Lernende durch sie allmählich zu einer immer klarer werdenden Wahrnehmung des individuellen künstlerischen Wollens und Ausdrückens, der eigenen „Sprache“, der eigenen Künstlerpersönlichkeit gelangen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass sogenannte Künstlerpersönlichkeit sich nicht nur in Hochleistungsaufführungen von Musikprofis zeigt, sondern auf jedem Level musikalischen Könnens zum Vorschein kommen kann, sofern ihr Aufblühen nicht von Lehrenden behindert oder gar unterdrückt wird. Ich vermute daher auch, dass es umso mehr Künstlerpersönlichkeiten, individuelle musikalische „Sprachen“ und letztlich eine interessante ästhetische Buntheit innerhalb unserer Musikkultur geben wird, je mehr wir musikalische und musizierbezogene Bildung als ein Aufspüren, Stärken und Weiterentwickeln von vielleicht noch unscheinbaren aber wahrnehmbar vorhandenen Eigenheiten jeder einzelnen Musizierschülerin betrachten und als Konsequenz daraus unsere Lehr- und Lernpraxis an dieser optimistischen Prämisse ausrichten. Sorgfältig und regelmäßig produzierte Aufnahmen jedenfalls stellen einen wichtigen Baustein im Mosaik musizierbezogener Bildungsziele dar.

 

Der digitale Teil des Lernportfolios wird ergänzt durch einen „analogen“ Teil: Ebenfalls mit dem Zeitpunkt seiner Anmeldung bekommt jeder Schüler des Musizierlernhauses ein kleinformatiges Notizheft geschenkt, das einleitend einige stichpunktartige Erklärungen zum Prinzip des Dokumentierens, Beschreibens und Reflektierens eigener Lernprozesse enthält, darüber hinaus vielleicht noch mit einigen wenigen inspirierenden Zitaten zum Lernen aus den Bereichen Psychologie, Anthropologie, Philosophie und Belletristik versehen ist, ansonsten aber nichts weiter beinhaltet als leere Seiten. Kleinere Kinder erhalten ein altersgerecht gestaltetes, sparsam aber gewitzt illustriertes Notizbuch mit einem Titel wie: Lerndetektiv – Dem eigenen Lernen auf der Spur!, das frei von infantilisierender Erwachsenenrhetorik erste Anregungen gibt, eigene Lernprozesse zu erforschen.

 

Lernportfolioarbeit mittels Notizheft

Dieses hauptsächlich leere Notizheft wird von seinem Besitzer selbstständig gefüllt mit Anmerkungen zum erhaltenen Unterricht, kurzen Reflexionen zu eigenen Lernprozessen, Schlüsselbegriffen zur technischen Realisation einer schwierigen Passage, Übeplänen und anderem, kurz: mit handschriftlichen Notizen zu eigenen Lernprozessen. Von daher unterscheidet sich dieses Notizheft auf den ersten Blick nicht so sehr von einem gewöhnlichen Hausaufgabenheft. Der entscheidende Unterschied besteht jedoch darin, dass alle Eintragungen vom Lernenden selbst stammen, und alle dort notierten Aufgaben und Ziele solche sind, die der Lernende an sich selbst stellt. Auch wird das Notizheft nicht von irgendjemandem ohne Erlaubnis gelesen oder gar „überprüft“, seien es nun Eltern oder die Lehrerin. Ist ein Lernnotizheft irgendwann vollgeschrieben, erhält der Lernende einfach ein neues leeres Exemplar. Die Seiten des alten Heftes können eingescannt beziehungsweise abfotografiert und dem eigenen digitalen Lernportfoliobereich als Material hinzugefügt werden, sodass es immer auch ein digitales Backup des handschriftlichen, „analogen“ Lernportfolioteils gibt.

 

Fazit: Sinn und Zweck

Aus der Kombination von analogem Lern-Notizbuch und personalisiertem Online-Lernarchiv ergibt sich ein wesentliches Charakteristikum dieser Art von Lernportfolioarbeit: Es geht in erster Linie darum, Momente des Gelingens und der Inspiration zu sammeln. Lernvorhaben, die aufgegangen sind. Dinge, auf die man Stolz ist. Methoden, die für einen selbst funktionieren. Gedanken, die einen selbst weiterbringen. Ereignisse, an denen man sich in einem konstruktiven Sinne gerieben hat. Arbeitsprozesse, die Freude gemacht haben und deren Produkte beim wiederholten Anschauen bzw. Anhören immer wieder neu Freude bereiten. Herausforderungen und Ziele, die man sich selber gestellt und – allein oder mit Hilfe anderer – in Eigenregie bewältigt hat. Aussprüche von anderen, die einen Aha-Effekt ausgelöst haben usw.

 

Ein solches multimediales Lernportfolio dient keiner Leistungsüberprüfung. Es ist ein Medium vom Lernenden für den Lernenden, und zwar ausschließlich für ihn selbst. Es soll ihm ein Spiegel sein bezüglich der Qualität des eigenen Musizierens und ihm ermöglichen, das eigene Lernen in gezielter Auseinandersetzung mit den daraus resultierenden Produkten zu verstehen. Und es soll Freude an eigenen Leistungen sowie am Hören des eigenen Spiels bringen und dadurch aktuelle sowie zukünftige Lernprozesse positiv verstärken.

 

Erweiterungen

Zu der hier beschriebenen Idee einer kombinierten digitalen und analogen Lernportfolioarbeit sind zwei Erweiterungen denkbar, die zum einen als wichtige Ergänzung zur bewussteren Eigenwahrnehmung die Fremdwahrnehmung auf das eigene Lernen integrieren, und zum anderen Lehrende ebenso zur Reflektion ihres eigenen Lernens anregen:

 

1.

Zusätzlich zur Perspektive des Schülers auf sein Lernen könnten Lehrende ihre eigenen Beobachtungen zum Lernen dieses Schülers in einer eigenen, extra dafür eingerichteten Rubrik seiner Online-Lerndokumentation eintragen. Dann enthielte das Lernportfolio neben Lernnotizen und Lernprodukten auch schriftliche Kommentare zum Lernen des Schülers seitens des Lehrers. Eigenwahrnehmung und Fremdwahrnehmung könnten so eine für den Schüler fruchtbare Verbindung eingehen. Selbstverständlich müssten alle Kommentare so formuliert sein, dass sie den Schüler stärken, etwaige Kritik also immer Handlungsalternativen enthält und entsprechend konstruktiv in Erscheinung tritt. Im Wesentlichen sollte der Schwerpunkt von Lehrerkommentaren jedoch auf dem genauen Beschreiben sowie einfühlsamen Interpretieren von beobachteten Lernsituationen liegen, weniger auf einem Bewerten und Urteilen. Und selbstverständlich müssten Lernende ihre Zustimmung dazu geben, dass Lehrende Beobachtungen zum Lernen ins persönliche Lernportfolio des Lernenden eintragen. Dieser „Service“ der Lehrenden dürfte also lediglich ein Angebot sein, das nur dann in Kraft tritt, wenn ein Lernender es von sich aus anfordert. Genauso kann der Lernende natürlich jederzeit eine bereits ausgesprochene Inanspruchnahme dieses Service wiederrufen.

 

Unabhängig davon, ob und wie viele Schüler schriftliche Lehrerkommentare zum eigenen Lernen wünschen, wäre es sinnvoll, wenn Lehrende täglich ihre Beobachtungen des Lernens aller Schüler des Musizierlernhauses aufschrieben und sie von Zeit zu Zeit in Teamsitzungen austauschten und besprächen. Dies zum einen, um mittels individueller Fallbesprechungen einzelne Schüler besser kennenzulernen und sie in ihrem Lernen effektiver unterstützen zu können. Zum anderen, um so die eigene Beobachtungsfähigkeit zu schulen und ein tiefergehendes Bewusstsein und Verständnis für die Vielfalt individueller Bildungsprozesse zu entwickeln. Hat ein Lernender aktuell keine schriftlichen Lernkommentare von Lehrenden angefordert – vielleicht weil sie ihn eben doch an den Erhalt von Schulzeugnissen erinnern –, verbleiben die notierten Beobachtungen der Lehrenden zu diesem Lernenden ausschließlich im Kreis der Lehrenden.

 

2.

Die Idee einer möglichst weitstreuenden Kultur der Lernportfolioarbeit innerhalb eines Musizierlernhauses erscheint mir eigentlich erst dann konsequent umgesetzt, wenn Lehrende ebenfalls ein Lernportfolio in Bezug auf ihr eigenes Lernen führen. In diesem fände Platz für Erkenntnisse zum Üben und Weiterlernen des eigenen Hauptinstrumentes, es würde aber auch zum Lernen eines neuen, bisher nicht gespielten Instrumentes anregen, was Lehrende zumindest ansatzweise wieder zurückversetzte in die Position eines instrumentalen Anfängers, und Schülern die Möglichkeit böte, nicht nur Mitschüler, sondern auch Lehrende des Musizierlernhauses zu unterrichten. Darüber hinaus könnten Lehrende ihr Lernen in Bezug auf musizierpädagogisches Handeln im Lernportfolio thematisieren, beschreiben, untersuchen, befragen und sich mittels dieses Tools pädagogisch weiterbilden. Entscheidend ist der Punkt, dass Lehrenden-Lernportfolios einen Beitrag dazu leisten könnten, dass Lehrende sich im Musizierlernhaus genauso wie die Schülerinnen und Schüler als Lernende empfinden– nur eben als fortgeschrittene Lernende.

 

So könnte das Prinzip der Lerndokumentation beziehungsweise des Lernportfolios nebenbei auch zu einer ergiebigen Quelle pädagogischer Entwicklung der Lehrenden werden: Lehrende bilden sich anhand ihrer schriftlichen Beobachtungen der Lernenden sowie ihres eigenen Lernportfolios selbst fort!

Und nicht zuletzt könnte das dabei entstehende Material für eine wissenschaftliche Auswertung der teilweise neuartigen Bildungsvorgänge im Musizierlernhaus genutzt werden.