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Individualisierte Bildung in sozialen Kontexten:
Wie man mit Silent-Instrumenten völlig neue Lernumgebungen schaffen kann
von Andreas Doerne
Will man eine Musikschule zu einem Musizierlernhaus umgestalten, in dem nicht nur Unterricht gegeben, sondern auch eigenständig geübt werden kann, sieht man sich einer gewichtigen Herausforderung gegenüber: Wie schafft man möglichst viel Raum beziehungsweise Räume, in denen Lernende ihr Instrument allein für sich üben können? Verfolgt man parallel dazu auch noch das Ziel, unter den Beteiligten des Musizierlernhauses eine Kultur wechselseitigen Lehrens und Lernens zu etablieren und so allmählich eine funktionierende und vor allem produktive Lerngemeinschaft aufzubauen, zeigt sich eine weitere Herausforderung: Wie können möglichst viele Gelegenheiten geschaffen werden, damit Musizierende in Kontakt miteinander kommen und Lernende zu einem vielfältigen Austausch untereinander angeregt werden? Diese beiden Herausforderungen sind nicht trivial, sondern zentral. Es geht im Kern um die Frage, welche Mittel und Maßnahmen denkbar sind, mit deren Hilfe man eine Bildungsumgebung schafft, in der hochgradig individualisiertes Lernen und ein Lernen in sozialen Kontexten nicht nur gleichermaßen möglich ist, sondern beides dezidiert gefördert und aufeinander bezogen wird. Denn sowohl das eine als auch das andere kommt an einer traditionell arbeitenden Musikschule eher selten vor: Selbstgesteuertes individualisiertes Lernen, vorrangig in Gestalt des Übens, wird an das Zuhause des Lernenden outgesourct; Lernen in sozialen Kontexten tritt lediglich in Ensembles oder im Gruppenunterricht in Erscheinung. Dies jedoch meist auch nur ansatzweise, da in solchen Settings ein „organisches“, das heißt selbstinitiiertes Lernen von- und untereinander häufig durch lehrerzentrierte Herangehensweisen beziehungsweise dirigentenzentrierte Probenmethoden verhindert wird.
Nun werden bereits seit circa 25 Jahren sogenannte Silent-Instrumente hergestellt, mit denen man bemerkenswerterweise beide Herausforderungen gleichzeitig meistern kann. Mich persönlich wundert schon seit langem, dass das in Silent-Instrumenten schlummernde Potenzial für die Gestaltung von Lernumgebungen an Musikschulen nicht erkannt, geschweige denn genutzt wird. Zeit also, sich die Sache einmal etwas genauer anzuschauen.
Zunächst muss man festhalten, dass Silent-Instrumente – anders als die Bezeichnung vermuten lässt – beim Spielen nicht komplett still sind. Von Bauprinzip und
Klangerzeugung her sind es ganz normale akustische Instrumente, denen lediglich der Resonanzkörper fehlt. Stattdessen besitzen sie eine integrierte Elektronik, die die gespielten Töne des
Instrumentes mittels eines Schallwandlers direkt vom klangerzeugenden Material – beispielsweise einer Saite – abnimmt und dem Spieler über Kopfhörer verzögerungsfrei aufs Ohr gibt. Während er
spielt, hört der Spieler nun diesen elektronisch verstärkten Klang, produziert jedoch nach außen in den realen Raum hinein nur eine leise Klangwolke. So kann er sein Instrument beispielsweise in
einem Mietshaus zu jeder Tag- und Nachtzeit spielen, ohne Nachbarn und Mitbewohner akustisch zu behelligen. Weitergedacht können so aber auch mehrere Musiker unabhängig voneinander in ein und
demselben Raum musizieren, ohne dass sie sich gegenseitig stören. Mit aufgesetztem Kopfhörer befinden sich die Musizierenden akustisch gesehen wie unter einer Glocke und sind so vollständig für
sich, können also genau so ungestört üben wie allein zu Hause im eigenen Zimmer. Körperlich jedoch befinden sie sich im selben Raum mit anderen Musizierenden, können sich gegenseitig sehen und
sogar auch hören, sobald sie ihren Kopfhörer absetzen und eben jenen leisen Klängen lauschen, die das schwingende Material jedes Instrumentes der anderen Spieler trotz fehlenden Resonanzkörpers
eben doch erzeugt.
Man kann die Stärke des Eindrucks, durch den aufgesetzten Kopfhörer akustisch separiert zu sein, sogar mit der Wahl unterschiedlicher Kopfhörertypen beeinflussen: Will ich möglichst nur mein eigenes Spiel hören und die Umwelt klanglich maximal ausblenden, wähle ich einen geschlossenen Kopfhörer, bei dem die Ohrhörerrückwand hinter der Membran undurchlässig für Schall von außen konstruiert ist. Will ich hingegen mein Spiel zwar gut hören, dabei aber akustisch nicht komplett von meiner Umwelt abgeschirmt sein, mich also auch in den realen Raum eingebunden fühlen, wähle ich einen Kopfhörer offenen Typs, bei dem die Ohrhörerrückwand Schall von außen durchlässt. Ersteres entspricht einem Üben im eigenen Zimmer mit geschlossener Tür, letzteres annähernd dem Üben im eigenen Zimmer bei offener Tür beziehungsweise dem Musizieren in gemeinschaftlich genutzten Wohnräumen wie Küche oder Wohnzimmer.
In einer solcherart mit Silent-Instrumenten ausgestatteten Lernumgebung können die Beteiligten spontan mit anderen Übenden in Kontakt treten, sich kurz etwas abschauen oder abhören, sich vom Spiel eines Anderen inspirieren lassen oder auch eine kurze Fachsimpelei führen. Ein Vorteil dieser Lernumgebung besteht ja darin, dass dort zwar Silent-Instrumente gespielt werden, es im Raum jedoch keineswegs still sein muss. Unterhaltungen und andere Tätigkeiten in vergleichbarer Lautstärke sind nicht nur kein Problem, sie sind in vorliegendem Fall explizit erwünscht.
Silent-Instrumente ermöglichen so ein Üben und Spielen für sich allein innerhalb einer Gemeinschaft! Man kann mit ihnen Lernumgebungen als Sozialräume gestalten, in denen individuelles und soziales Lernen gleichzeitig stattfindet! Und sie sind Teil einer Lösung für das Problem, wie man bei normalerweise immer und überall vorhandener Raumknappheit genügend Raum fürs Üben und andere selbstgesteuerte Bildungsprozesse schaffen kann! Mit Silent-Instrumenten können musikbezogene Gemeinschaftsateliers kreiert werden, wie man sie von Ausbildungsstätten für Bildende Kunst her kennt.
Nach diesen einleitenden und zugleich zusammenfassenden Gedanken, möchte ich jedoch noch ein wenig ins Detail gehen. Schließlich bieten Silent-Instrumente nicht nur Lösungen für bestimmte Probleme, sondern werfen ebenso neue Fragen auf. Zudem ist wahrscheinlich auch nicht jeder Leser vertraut mit den unterschiedlichen Silent-Systemen verschiedener Instrumentengattungen.
Exkurs: Eine kleine Silent-Instrumentenkunde
Streichinstrumente & Gitarre
Bezüglich Bauart und Klangerzeugungssystem bilden Silent-Gitarren und Silent-Streichinstrumente eine gemeinsame Gruppe. Bei beiden Gattungen fehlt der Resonanzkörper, die Musikerin bespielt die Saiten jedoch genauso wie bei einem rein akustischen Instrument. Eine Tonabnahme erfolgt über sogenannte Piezo-Pickups, die den durch Schwingung der Saiten erzeugten Körperschall beispielsweise am Steg abnehmen und in ein elektrisches Signal umwandeln. Die Verwendung einer solchen Technik führt zu einem realistischen Klangeindruck im Kopfhörer, der jedoch auch speziell und gewöhnungsbedürftig ist, da die normalerweise äußerst vielfältigen Resonanzeffekte des gesamten Korpusholzes sowie der Ausbreitung des Tones im Raum nur punktuell oder gar nicht vorkommen. Der Ton fühlt sich daher immer auf eine gewisse Art „nackt“, „technisch“ und sehr direkt weil resonanzarm an. Als Spielerin ist man dadurch verleitet, mit der klangerzeugenden Bewegung „mehr“ zu machen oder zu geben, als auf einem akustischen Instrument nötig wäre, ohne jedoch jene Wirkung zu erzielen, die man sich erhofft. Um dieses klangliche Manko ein wenig zu relativieren, ist den Instrumenten ein digitaler Halleffekt beigegeben, den man stufenlos zum Originalsignal hinzumischen kann. Er kreiert einen virtuellen Raumeindruck, der zumindest Raumresonanzen simuliert und den Eindruck akustischer Weite erzeugt. Trotzdem bleibt der problematische Grundsound erhalten, da das trockene Originalsignal (dry-signal) im Verhältnis zum Hallklang (wet-signal) nicht heruntergeregelt werden kann, was allerdings bei der mittelmäßigen Qualität der meisten eingebauten Halleffekte sowieso nicht zu einer Verbesserung des Gesamtsounds führen würde. Auch kann man den Soundeindruck im Kopfhörer mit der ebenso vorhandenen Klangregelung für Höhen und Bässe zwar verändern, aber qualitativ nicht auf eine höhere Stufe heben.
Blechblasinstrumente
Eine weitere Gruppe bilden die Blechblasinstrumente Trompete, Horn, Posaune, Tuba und Euphonium. Für sie werden – anders als bei Streichern und Gitarren – keine eigenen Silent-Instrumente hergestellt. Die Instrumentalistin spielt wie gewohnt auf ihrem eigenen akustischen Instrument, das jedoch mit einem extra produzierten Dämpfer im Trichter gemuted wird. In ihn ist ein kleines Elektret-Kondensatormikrofon eingebaut, das den Klang, der durch die Dämpfung nur noch minimal nach außen dringt, so aufnimmt, als würde die Spielerin sich im schallisolierten Aufnahmeraum eines Tonstudios befinden. Weitergeleitet wird das Audiosignal an eine kleine Verstärkereinheit, die das Signal für den Kopfhörer aufbereitet und ebenfalls einen digitalen Hall sowie eine Klangregelung beinhaltet.
Hier bietet die Firma Yamaha aktuell das vielleicht ausgereifteste System aller Silent-Instrumentengattungen an: Es beruht nicht bloß auf einer Verstärkung des resonanzmäßig defizitären, mit Reverb und EQ angereicherten Mikrofondirektklangs, sondern auf einer digitalen Umformung des gesamten Audiosignals. Yamaha nennt dieses Verfahren Brass Resonance Modeling. Es lässt das Instrument im Kopfhörer der Spielerin so erklingen, als würde sie ohne Dämpfer rein akustisch spielen. Der Klangeindruck ist also mit installiertem Dämpfer und aufgesetztem Kopfhörer im Vergleich zum normalen akustischen Spiel ohne das Silent-System nicht anders oder gar schlechter, sondern nahezu identisch – vorausgesetzt die Spielerin befindet sich in einem gut klingenden Raum. Diese Technik stellt qualitativ einen entscheidenden Fortschritt dar, weil die weiter oben bei Streichinstrumenten und Gitarren erwähnten klanglichen Defizite des über Kopfhörer verstärkten Signals wegfallen. Da der Klangeindruck insgesamt derart überzeugend ist, kann man vermuten, dass in Zukunft andere Silent-Instrumente ebenfalls mit einer vergleichbaren Technik ausgestattet werden. Bei den Silent-Systemen für Blechbläser hört man jedenfalls schon heute, was zukünftige Entwicklungen an klanglichen Möglichkeiten auch für andere Instrumentengattungen bereithalten.
Tasteninstrumente
Als dritte Silent-Instrument-Gruppe wären die Tasteninstrumente zu nennen, und hier natürlich in erster Linie das Klavier.[1] Silent-Klaviere sind von Bau und Funktionsweise her eine Mischung aus Instrumenten der erstgenannten Streicher/Gitarre-Gruppe und dem Silent-System von Blechblasinstrumenten: Sie funktionieren einerseits als vollakustisches Instrument, sind aber genauso auch als eigenständiges Silent-Instrument zu verwenden. Als solch ein Hybrid müssen sie jedoch entsprechend eigens angefertigt werden. Ihre Funktionsweise ist simpel: Ist der Silentmodus inaktiv, klingt und spielt sich das Klavier wie ein gewöhnliches akustisches Klavier. Aktiviert man den Silentmodus, werden die Hämmerchen durch eine Mechanik von den Saiten weggerückt, sodass sie diese nicht mehr anschlagen können. Lichtschranken und Drucksensoren messen an verschiedenen Stellen in Echtzeit die Bewegung jedes einzelnen Hammers und wandeln sie in Midi-Signale um, die wiederum eine ins Klavier eingebaute digitale Klangerzeugung ansteuern. Was die Spielerin über Kopfhörer vernimmt, sind dann nur noch ausschließlich elektronisch generierte Klänge, die in keinem Bezug mehr zu den real vorhandenen Saiten beziehungsweise zum Resonanzkörper des Instrumentes stehen.
Eine Besonderheit in dieser Gruppe stellen Digitalflügel dar, die zwar mit einer Hammermechanik wie der eines akustischen Flügels ausgestattet sind, jedoch weder Saiten noch einen Resonanzboden besitzen. Stattdessen ist ein speziell konzipiertes Lautsprechersystem eingebaut, das ein lautstärkemäßig stufenlos regelbares Spielen ohne Kopfhörer ermöglicht. Laut aufgedreht klingt ein Digitalflügel im Raum wie ein echter Flügel, obwohl alle Töne rein elektronisch erzeugt sind. Auf demselben baulichen Prinzip basierend werden auch digitale Kirchenorgeln produziert, deren akustisches Abstrahlverhalten von einigen Herstellern durch den Einbau nicht klingender, aber mitresonierender Orgelpfeifen zusätzlich verbessert wird. Einen gewichtigen Nachteil bringen Digitalflügel und Digitalkirchenorgeln jedoch mit sich: Man kann auf ihnen keine experimentellen Spielweisen verwirklichen und somit einen beträchtlichen Teil der Kunstmusik des 20. und 21. Jahrhunderts sowie aktueller Jazz- und Popmusik nicht realisieren.
Band-Instrumente
Das führt uns in unserem kurzen Abriss über Technik, Bauart und Funktionsweise von Silent-Systemen hin zur vierten Gruppe von Silent-Instrumenten, nämlich dem klassischen Band-Instrumentarium bestehend aus E-Gitarre, E-Bass, Drumset und Keyboard.
E-Bass und E-Gitarre sind interessanterweise seit jeher, quasi von Natur aus Silent-Instrumente, ohne dass sie explizit mit dem Ziel konstruiert wurden, auf ihnen „still“ spielen zu können. Im Gegenteil: Es ging bei ihrer Konstruktion vor allem darum, dass man über einen entsprechend dimensionierten Verstärker umso lauter den Probe- oder Konzertraum beschallen kann. Dafür wurde der Resonanzkörper zunächst teilmassiv, später dann vollmassiv gefertigt und verkleinert, im Endeffekt also eliminiert. Denn ein fehlender Resonanzraum im Instrument verhindert Rückkopplungen mit dem eigenen Verstärker beziehungsweise mit der PA im Saal. Trotzdem sind sowohl E-Gitarre als auch E-Bass leicht in Silent-Instrumente umzufunktionieren. Man braucht lediglich eine Verstärkersimulationssoftware in Form einer App, eines Plug-Ins oder eines Stand-Alone-Gerätes und kann problemlos an jedem Ort „still“ üben. Der Sound solcher digitalen Verstärkersimulationslösungen ist inzwischen so ausgereift, dass man ihn selbst bei preislich günstigen Geräten nur noch schwer vom simulierten Originalverstärker unterscheiden kann.
Aufgrund seiner Lautstärke stellt das Drumset jedoch das größte Problem dar. Um Drums „silent“ spielen zu können, muss man zu einem E-Drumset greifen. Für akustische Snare, Toms und Bassdrums gibt es zwar Wechselfelle, deren Schallemission deutlich reduziert ist (sogenannte Meshheads). Jedoch kann man mit ihnen kein elektronisches Signal erzeugen. Und spätestens mit dem Versuch, die Becken „silent“ zu bekommen, ist endgültig Schluss.
Ein E-Drumset funktioniert wie ein Digitalflügel: Es besitzt kein resonierendes Material oder Resonanzräume. Die über Kopfhörer ausgegebenen Klänge sind zu 100% elektronisch erzeugt oder bestehen aus Audio-Samples. E-Drum-Sounddesigner haben klanglich vor allem damit zu kämpfen, den hohen Schalldruck sowie die geradezu körperlich spürbaren Anschlagsimpulse vieler akustischer Trommeln realistisch zu simulieren, ohne dass man die Kopfhörerlautstärke auf ein ungesundes Maß hochregeln müsste. Auch ist das Problem einer differenzierten Abtastung der Schlagpad-Flächen für eine klangfarbenreiche Simulation der unterschiedlich klingenden Zonen einer Felloberfläche inklusive des Trommelrandes nicht einfach zu lösen. Die Firma Roland ist mit ihrer V-Drums Serie hier ein technologischer Vorreiter. Trotzdem steht in der Kategorie Silent-Drums ein nächster, unter Umständen entscheidender Sprung in der Entwicklung noch bevor – ähnlich wie das für Silent-Gitarren und Silent-Streicher auch gilt. Wann dieser Entwicklungssprung kommt und worin er genau bestehen wird, ist aktuell nicht abzusehen.
Keyboards sind seit jeher Silent-Instrumente. Da sie jedoch nicht zum Zweck produziert werden, eigenständig akustische Klänge zu produzieren und dies entsprechend auch nie getan haben, gehören sie strenggenommen auch nicht zur Kategorie der Silent-Instrumente. Eigentlich sind sie lediglich mit einer Klaviertastatur ausgestattete Midi-Steuerungsgeräte für elektronische Klänge jeglicher Art. So eignen sich Keyboards gleichermaßen für das Spiel spaciger Synthesizersounds, eines elektronischen Drumsets, exotischer Percussioninstrumente und Streicher-, Gitarren-, Harfen- oder Bläsersamples.
In folgender Tabelle sind die Fakten zu allen verfügbaren Silent-Instrumenten noch einmal übersichtsartig zusammengetragen:
Grob zusammengefasst kann man also zwei Kategorien von Silent-Systemen unterscheiden: Systeme der ersten Kategorie sind solche, die den originalen Klang eines real schwingenden Materials abnehmen und lediglich elektronisch verstärken; Systeme der zweiten Kategorie funktionieren nach dem Prinzip einer Umwandlung der Spielbewegung in ein Midi-Signal, das elektronisch erzeugte Klänge triggert.
Neben den genannten Silent-Instrumenten, die mit wenigen Einschränkungen gut zu nutzen sind (Gitarre, Streicher), bis hin zu solchen, die in punkto Klang und Spielgefühl keinen Unterschied mehr zu rein akustischen Instrumenten erkennen lassen (Blechbläser), gibt es auch Instrumente, die in einer Silent-Version nicht verfügbar sind, weil sie entweder rein technisch nicht stummzudämpfen sind, weil sie – was Handhabung und Klangproduktion betrifft – zu variabel bespielbar sind als dass Pickups, Mikrofone oder Sensoren imstande wären diese Vielfalt einzufangen, oder weil der Markt dafür zu klein ist. Zu dieser Gruppe nicht verfügbarer Silent-Instrumente gehören alle Holzbläser, klassische Schlaginstrumente wie Marimba und Pauke, alle Arten von Percussion-Instrumenten, Harfe, alle Instrumente aus dem Bereich der sogenannten Weltmusik und – last but not least – die menschliche Singstimme.
Zusammen musizieren mit Silent-Instrumenten
Neben der Möglichkeit, dass mehrere Spieler in ein und demselben Raum allein für sich üben können ohne den Nebenmann zu stören, besteht ein großer Vorteil des Gebrauchs von Silent-Instrumenten darin, dass mehrere Spieler ohne großen Aufwand auch zusammengeschaltet werden und so miteinander musizieren können. Mit ihnen ist man imstande, temporäre virtuelle Kammermusikräume zu schaffen, die ebenfalls den Vorzug akustischer Trennung von der Umwelt besitzen und darüber hinaus beliebig viele Teilnehmer aufnehmen. Dazu benötigt man lediglich einen digitalen Rackmixer mit integriertem W-LAN, der – klein und unscheinbar wie er heutzutage konstruiert ist – unsichtbar in einer Ecke untergebracht werden kann. An verschiedenen Stellen des Raumes müssen Patchbays im Fußboden installiert oder in kleine, tischartige Dockingstationen verbaut werden, die Instrumentensignale zum Rackmixer hinschicken und gleichzeitig Kopfhörersignale vom Rackmixer empfangen. In diese Patchbays kann sich jeder im Raum befindliche Spieler mit seinem Silent-Instrument sowie dem eigenen Kopfhörer einklinken. Im Rackmixer werden alle eingehenden Signale zusammengeführt, wobei jeder Spieler einen eigenen Kanal belegt. Mit Hilfe der herstellereigenen, auf einem Tablet oder Smartphone installierten Mixsoftware kann man den Kanal jedes verbundenen Spielers einzeln ein- oder ausblenden und so eine Gruppe von beliebig vielen Spielern bilden, die sich untereinander über Kopfhörer hören. Über die physischen Aux-Ausgänge am Mixer sind verschiedene solcher unabhängigen Submixes in genau jener Anzahl möglich, wie der Mixer Aux-Ausgänge besitzt.
So kann sich jeder Silent-Instrumentalist per App auf dem eigenen Smartphone seinen eigenen Mix aus allen am Rackmixer anliegenden Signalen zusammenstellen. Sind beispielsweise gerade sechs Musiker mit dem Rackmixer verbunden, können sie sich zu drei Duos, zwei Trios oder einem Duo und einem Quartett zusammenschließen. Auch lässt sich so ganz einfach Simultanunterricht von einem Lehrer und mehreren Schülern realisieren, da sich der Lehrer – wie jeder andere mit dem Rackmixer Verbundene auch – mittels App das Spiel einzelner Schüler oder Schülergruppen live auf seinen Kopfhörer holen kann. Das gleiche Prinzip nutzend kann man sich als Zuhörer einfach in eine Ecke des Raumes setzen, die Mixsoftware im eigenen Smartphone öffnen und sich wie beim Radiohören durch die aktuell anliegenden Signale zappen, sich quasi ein eigenes Wandelkonzert aus den Klängen der aktuell im Raum Musizierenden zusammenstellen.
Die Verbindung über einen Rackmixer hat darüber hinaus auch noch den Vorteil, dass man Zugriff auf qualitativ höherwertige Audio-Effekte hat. Mit ihnen kann der Klang des eigenen Instrumentes viel differenzierter bearbeitet werden, als das mit der im Instrument verbauten Elektronik möglich wäre. Einen Teil der oben erwähnten Klangprobleme beispielsweise von Piezo-Tonabnehmern kann man so zumindest teilweise beheben.
Lernumgebungen gestalten mit Silent-Instrumenten
Wenn ich hier das Potenzial von Silent-Instrumenten herausstelle, bedeutet es nicht, dass ich das Spiel auf akustischen Instrumenten für unwichtig oder gar überflüssig halte. Es geht mir nicht um ein Entweder-oder, sondern um ein Sowohl-als-auch. Ich suche nach intelligenten, gewinnbringenden Möglichkeiten der Verzahnung beider Welten. Innerhalb eines Musizierlernhauses sollten daher meiner Ansicht nach drei Kategorien von Räumen beziehungsweise Bereichen fürs individuelle Üben oder selbstinitiierte gemeinschaftliche Musizieren geschaffen werden:
1. Silent-Arena
Die Silent-Arena ist ein zwischen 50 und 200 Quadratmeter großer, loftartiger Bereich im Musizierlernhaus, der ausschließlich für das (Be)Spielen mit Silent-Instrumenten vorgesehen ist. Er ist mit aller externen Technik bestückt, die fürs Zusammenspiel mehrerer Silent-Instrumentalisten nötig ist, bietet kabellose Sender und Bluetooth-Kopfhörer für eine maximale Bewegungsfreiheit in der Arena, ist ausgestattet mit flexibel verschiebbarem Mobiliar, Gruppentischen sowie Silent-Instrument-Bandsetups ready to play. Möglichst im Zentrum des Hauses verortet, ist die Silent-Arena zentraler Übeort, Musikspielplatz, Treffpunkt und Austauschforum in einem.
2. Silent-Areas
Silent-Areas sind im ganzen Haus verteilte nischenartige Rückzugsorte, die zum Üben und Proben mit Silent-Instrumenten einladen. Sie sind durch Paravents, Pflanzen oder andere Raumtrennelemente innenarchitektonisch abgegrenzt, stellen aber keinen in sich geschlossenen, für sich abschließbaren Raum dar. Man kann sich in ihnen aus der Öffentlichkeit des Hauses zurückziehen ohne jedoch dabei für andere unsichtbar zu werden. Im Sommer können auch auf dem Außengelände des Musizierlernhauses Silent-Areas eingerichtet werden, die zum Outdoor-Üben einladen.
3. Sonic-Boxes
Sonic Boxes sind kleine abschließbare Überäume, in denen akustische Instrumente in allen Lautstärken gespielt werden können. Weil sie klein sind und daher leicht die Anmutung einer Übezelle bekommen, sind sie nicht nur visuell, lichttechnisch, belüftungsmäßig und haptisch auf Luftigkeit, Helligkeit und Leichtigkeit hin designt, sondern bieten auch ein lautsprechergestütztes Hallsimulationssystem, das den Klang im Raum über unsichtbar installierte Mikrofone aufnimmt und als reines Hallsignal über ebenfalls unsichtbare Surround-Boxen wieder dreidimensional in den Raum projiziert. Zum Einsatz kommt eine sogenannte Faltungshallsoftware, die Konzertsäle, Kirchen und Aufnahmeräume von überall auf der Welt real reproduzieren kann weil sie mit vor Ort real gesampelten Impulsantworten arbeitet. So kann die virtuell-akustische Raumgröße der Sonic-Box über die einstellbare Nachhallzeit und Reflexionscharakteristik bis zum Volumen einer Kathedrale hin erweitert werden.
Alle drei Bereiche stehen für alle Beteiligten jederzeit zur freien Verfügung. Wer dann welchen Bereich wann für was nutzt, ist abhängig von den individuellen Bedürfnissen der Lernenden, dem Lerninhalt, der passenden Lernform, der unter Umständen benötigten Lehrform sowie vielen weiteren situativen Faktoren. Werden diese drei Bereiche in der Praxis extensiv von einem Großteil der Lernenden, Übenden und Musizierenden genutzt und in der Nutzung auch eng miteinander verzahnt, kann das entstehen, was ich eingangs beschrieben habe: Ein hochindividuelles Lernen und Sich-Bilden in vielfältigen sozialen Kontexten.
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[1] In dieser Instrumentengattung existiert interessanterweise bereits seit über 50 Jahren ein „Silent-Instrument“, das allerdings nicht als solches konzipiert wurde: Fenders Rhodes-Piano. Es erzeugt Klänge nicht über Saiten, sondern über verschieden lange Metallzungen, die von tastaturgesteuerten Hämmerchen angeschlagen werden. Ein Resonanzkörper fehlt auch hier. Spielt man ein Rhodes unverstärkt, hört man wie bei Silent-Geigen oder -Gitarren alle Töne auch akustisch, nur eben relativ leise.