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Musizierenlernen mit Online-Videotutorials

 

von Andreas Doerne

 

 

Wenn man nach der Rolle von digitalen Medien in einem Musizierlernhaus fragt, muss man sich insbesondere mit einem Phänomen intensiver beschäftigen, nämlich dem vor etwa 15 Jahren entstandenen und seitdem stark expandierenden Bereich musizierbezogener Videotutorials, die von Privatpersonen oder kleinen Firmen mit geringem bis keinem Budget produziert und zur freien Nutzung auf Online-Videoplattformen wie YouTube oder Vimeo hochgeladen werden. Diese Tutorials ermöglichen allen Menschen mit Internetanbindung einen kostenlosen Zugang zu einer zwar anderen aber potenziell äußerst fruchtbaren Form von Instrumentalunterricht. Schon heute lässt sich beobachten, dass dieses von vielen Usern an vielen Orten produzierte, weltweit verfügbare und ständig wachsende Videotutorial-Angebot die Art und Weise grundlegend verändert, wie Menschen ein Instrument lernen. Den Kinderschuhen entwachsen und weit davon entfernt, eine temporäre Modeerscheinung zu sein, kann man davon ausgehen, dass Online-Videotutorials die Zukunft des Musizierenlernens stark prägen wird.

 

Der Umgang mit Online-Videotutorials besteht in der Regel aus einem selbstinitiierten, selbstgesteuerten, hochgradig individualisierten Lernen, das im Vergleich zu vielen anderen Lernpraxen beziehungsweise Unterrichtsmodellen ein hohes Maß an Flexibilität bietet. Gekennzeichnet ist es dadurch, dass die Lernende autonom darüber bestimmt,

  • was sie lernen will: Eine fast unüberschaubare Vielfalt an Inhalten ist per einfacher Schlagwortsuche auffindbar. Sie kann Online-Videotutorials im Sinne eines modularisierten Kompendiums an Selbstlernmaterialien nutzen, das ihr keine im Schwierigkeitsgrad ansteigende Progression sequenziell festgeschriebener Lernschritte diktiert, sondern das nach Inhalten geordnete Lernkapitel aufweist, die frei kombinierbar sind und von unterschiedlichen Fähigkeitsstufen aus angegangen werden können. Zuweilen sind sogar Noten oder Tabulaturen in den Videos implementiert, sodass selbst die Notwendigkeit, sich die entsprechenden Partituren anzuschaffen, zumindest dann entfällt, wenn man keine eigenen handschriftlichen Notizen in eine eigene, papierene Notenausgabe eintragen möchte.
  • von wem sie lernen will: Gerade bei häufig nachgefragten Lerninhalten finden sich meistens mehrere, von unterschiedlichen Menschen erstellte Tutorials, die entsprechend verschiedene Lehrerpersönlichkeiten mit ihren jeweils eigenen methodischen Herangehensweisen zeigen. Vergleichbare Qualität und Passung der Videos vorausgesetzt, kann sich die Lernende jenen Lehrer auswählen, der mit seiner Eigenart am besten zu ihr passt. Möglich ist auch, dass die Lernende eine gewisse Zeit ausschließlich mit den Tutorials von Lehrer XY arbeitet, um im Anschluss daran ihren Lernweg mit den Videos von Lehrer YZ fortzusetzen. Oder sie kann zum selben Thema parallel mit mehreren Lehrern arbeiten und durch die so zum Vorschein kommenden unterschiedlichen Sichtweisen auf denselben Lerngegenstand den eigenen Bildungsprozess multiperspektivisch bereichern. Man sieht: Ein gerade im Kontext instrumentalen Einzelunterrichts nicht selten mit zwischenmenschlichen Schwierigkeiten behafteter Lehrerwechsel ist in der Online-Videotutorial-Welt nicht nur kein Problem, sondern eine Ressource. Genauso verhält es sich mit dem Prinzip des Co-Teaching, das beim Lernen mit Videotutorials keine Ausnahme, sondern fast schon die Regel ist.
  • wann sie lernen will: Video-Tutorials lassen sich zu jeder Tag- und Nachtzeit nutzen, sind an keinen festen Unterrichtstermin gebunden, benötigen keinerlei im Voraus zu tätigende Absprachen. Die Zeitspanne einer Unterrichts- bzw. Lernsequenz kann von wenigen Minuten bis hin zu mehreren Stunden reichen und von der Lernenden völlig frei an die eigenen Bedürfnisse und situativen Gegebenheiten angepasst werden.
  • wo sie lernen will: Der Unterrichts- beziehungsweise Lernort ist frei bestimmbar, denn ein Tablet oder Smartphone kann an jede beliebige Örtlichkeit mitgenommen werden. Falls dort bekanntermaßen kein öffentliches WiFi-Netz verfügbar ist, lädt man sich die zu benutzenden Videos im vorhinein herunter, um dann offline mit ihnen zu arbeiten.
  • in welchem Tempo beziehungsweise Rhythmus sie lernen will: Die Lernende kann das Videotutorial, mit dem sie gerade arbeitet, jederzeit anhalten, um einen gerade vermittelten Inhalt für sich zu vertiefen. Sie kann eine Lehrsequenz beliebig oft zurückspulen und wiederholen, bis sie etwas wirklich verstanden und verinnerlicht hat. Ebenso kann sie auch die Abspielgeschwindigkeit des Videos verlangsamen, indem sie die Tempoanpassungsfunktion im Videoplayer benutzt. Dies ist sinnvoll, um beispielsweise die motorischen Feinheiten des Spiels der Videolehrerin genauer wahrnehmen zu können.

Man erkennt, dass sich das Lernen mit Online-Videotutorials – angesiedelt zwischen den Polen formal und informell – im Bereich des autodidaktischen Lernens verorten lässt. Merkmal dieser Lernform ist es, dass die Lernende ihr Lernen selbstständig sowie vorsätzlich initiiert und ihr während des Lernvorgangs die Tatsache des eigenen Lernens bewusst ist, die konkrete Lernsituation jedoch nicht aus einem traditionell-formalen (Live-)Unterricht zwischen Lehrer und Schülerin besteht. Die autodidaktisch Lernende wählt aus einem Pool an Lernmaterial beziehungsweise potenziellen Lernauslösern autonom jenen Lehrinput aus, den sie für ihr Weiterkommen auf dem Instrument gerade braucht. In der Regel ist sie während dieser autodidaktischen Lernprozesse allein für sich.

 

Kurz: Das Lernen mit Online-Videotutorials ist ein Lernen, bei dem man den Lehrer auswählen und nach Bedarf an- und abschalten kann. Dadurch entsteht eine ungewöhnliche pädagogische Situation: Die Lernende führt den Lehrprozess. Sie sitzt, bildlich gesprochen, selbst am Steuer des Unterrichtsfahrzeuges, anstatt von Lehrenden irgendwo hingefahren zu werden, wo sie vielleicht gar nicht hin wollte. Lehrer sind jedoch trotzdem mit dabei, nur sitzen sie auf dem Beifahrersitz oder der Rückbank und werden als Navigator, Kartenleser oder temporärer Fahrcoach von der Lernenden benutzt.

 

Kommen wir nun zu möglichen Nachteilen eines Lernens mit Online-Videotutorials, von denen es meiner Ansicht nach einen gravierenden und mehrere geringfügige gibt. Als geringfügig erscheinen mir folgende Mängel:

  • Bevor man überhaupt mit dem Lernprozess beginnen kann, braucht es eine gewisse Zeit, bis man das am besten geeignete Videotutorial zu einem Thema gefunden hat. Je nachdem wie abseitig das gesuchte Sujet ist, kann dieser Rechercheaufwand eine relativ hohe Eingangshürde darstellen, die nicht jeder Lernende zu überwinden bereit ist. Zuweilen lässt sich zu einem spezifischen Thema auch nach längerem Suchen kein passendes Tutorial finden.
  • Manchmal entspricht ein Tutorial vom Thema her zwar grob dem verwendeten Suchbegriff, passt aber von seiner thematischen Aufbereitung im Feinen nicht zur konkreten Frage des Lernenden. Auch ist es möglich, dass die methodische Herangehensweise der Online-Lehrerin quer zu den eigenen Lernwünschen steht. Lernen kann sich in Folge dessen zu einem kompromissbehafteten, mit didaktischen und vor allem mathetischen Leerstellen versehenen Unterfangen wandeln. Diese Leerstellen können zwar ausgefüllt werden, indem der Lernende im Kopf bestimmte Vorzüge des einen Videos mit den spezifischen Vorzügen eines anderen Videos kombiniert. Jedoch stellt dies eine sehr anspruchsvolle, eigentlich nur von erfahrenen Lernenden zu bewältigende Herausforderung dar. Fairerweise muss man festhalten, dass auch gewöhnlicher Live-Unterricht häufig solche didaktischen und mathetischen Lücken aufweist, und sich nur in seltenen Sternstunden eine vollständige Passung zwischen aktuellem Lernbedarf und realem Lehrangebot ergibt.
  • Viele Videotutorial-Lehrerinnen arbeiten in ihren Videos ohne Schüler, wenden sich mit ihrem Lehrhandeln also direkt an den Zuschauer. Entsprechend lassen Videotutorials häufig einen Hang zu instruktiven Lehrmethoden erkennen, weil ein Lehren ohne Schüler eben nur ein monologisches sein kann. Dem Lernenden fehlt so unter Umständen eine Figur im Video, die stellvertretend jene Fragen an die Lehrende richtet, die er selber stellen würde. Reflektierte Videotutorial-Dozentinnen beherrschen aber sowohl das klare verbale und zeigende Verdeutlichen einer Sache als auch das Bedenken und Vorwegnehmen etwaiger Fragen von Lernenden so weit, dass eine zwar monologische, aber qualitativ hochwertige Form von instruktiver Lehre dabei herauskommt.
  • Als Lernender kann man die im Video verwendete Kameraperspektive nicht verändern, kann nicht ins Bild hineinzoomen oder wie in der realen Welt neben oder hinter die lehrende Person treten, um beispielsweise die Greifhand beim Cello aus einer anderen Perspektive zu beobachten. Ebenso ist es nicht möglich, gegebenenfalls die Audioqualität des aufgezeichneten Tons zu verbessern. Man ist als Lernender vollständig abhängig von den bildgestalterischen und videotechnischen Fähigkeiten der Videoautorin.
  • Um das Potenzial von Online-Videotutorials wirklich ausschöpfen zu können, sollte man zumindest ansatzweise der englischen Sprache mächtig sein, da die Mehrzahl der Tutorials aufgrund ihrer potenziell weltweiten Abrufbarkeit eine internationale Zielgruppe im Blick haben und entsprechend auf englisch gehalten sind. Dies kann man wiederum auch als Vorteil betrachten: Online-Videotutorials motivieren zum Englischlernen und schulen beim Anschauen das Sprachverständnis. Leider gilt dies nicht fürs eigene, aktive Sprechen.

Der einzige wirklich gravierende Nachteil von Online-Videotutorials besteht jedoch darin, dass sie nicht interaktiv sind. Es können sich keine Lehr-Lern-Dialoge beziehungsweise künstlerische Interaktionen in Echtzeit zwischen Lehrerin und Schüler ereignen. Wenn einem als Lernender etwas unklar geblieben ist, kann man nicht direkt nachfragen. Es besteht zwar die Möglichkeit, eine schriftliche Nachfrage in der Kommentarspalte zu hinterlassen, ob und wann man darauf eine sinnvolle Antwort bekommt, ist allerdings offen. Diese nicht vorhandene Echtzeitinteraktivität bringt zudem mit sich, dass man als Lernender keine Rückmeldung auf das eigene Spiel erhält und sich daher nie ganz sicher sein kann, ob man gerade auf dem richtigen Weg ist oder sich ungewollt in eine Lernsackgasse hineinmanövriert. Was die zentrale Stärke von realem (Einzel)Unterricht darstellt – nämlich eine unmittelbare, situationsbezogene, „menschliche“ Rückmeldung oder Reaktion auf das eigene Spiel von einer real anwesenden Lehrperson zu bekommen und darüber mit ihr in einen Dialog zu treten –, ist beim Lernen mit Online-Videotutorials praktisch nicht möglich. Auch neuere Formen von Online-Unterricht, die Videotutorials mit App-gesteuerter Übekontrolle zu einem vermeintlich professionell supervidierten Geschehen verknüpfen, können dieses Manko nicht beheben, da die in solche Apps einprogrammierten Algorithmen nur auf die Parameter Tonhöhe, rhythmische Präzision und Intonation reagieren und somit lediglich die technische Richtigkeit eines Spiels messen, nicht dessen künstlerisch-ästhetischen Gehalt, die körperlich-gestische Ausdruckskraft oder die im Bewusstseinsraum des Musizierenden existierende Klangvorstellung, aus der sich jeder sinnerfüllte Musizierakt letztlich speist.

 

Ein bestimmter Trugschluss darf aus diesem Mangel jedoch nicht gezogen werden: Dass die Möglichkeit zur Interaktion weitgehend fehlt, bedeutet nicht, dass ein Lernen mit Online-Videotutorials umstandslos gleichzusetzen ist mit der ebenfalls dialogfernen Unterrichtsform des (Live-)Frontalunterrichts beziehungsweise dem methodischen Prinzip des Erarbeitenden Verfahrens. Das Lehren ist zwar in beiden Fällen ein vorrangig monologisches, aber beim Arbeiten mit Online-Videotutorials trifft es auf ein selbstgesteuertes, vollständig autonomes Lernen, das die aktuellen Lernbedürfnisse des lernenden Individuums zum Maßstab hat. Im klassischen Live-Frontalunterricht oder beim Unterricht im Modus des Erarbeitenden Verfahrens ist das Lernen zu einem hohen Prozentsatz fremdgesteuert: Man muss essen, was einem aufgetischt wird, oder aber hungern. Obwohl man nicht selber mitkochen kann, bestimmt man als Lernender bei der Arbeit mit Online-Videotutorials zumindest selber, was auf den Tisch kommt, wie und in welchem Tempo man isst.

 

Wenn also monologisches Lehren mit einem hochgradig selbstgesteuerten Lernen gekreuzt wird – wie dies beim Lernen mit Online-Videotutorials des Fall ist –, kann eine ungewöhnliche, neue, mitunter hochproduktive Art des Lernens entstehen.

 

 

Versuch einer Kategorisierung

 

Gerade im Bereich des Musizierenlernens weist die Welt der Online-Videotutorials eine beachtliche Vielfalt auf. Es existieren Tutorials zu unzähligen Themen, mit verschiedensten Zielsetzungen sowie höchst divergenten Vermittlungsmethoden. Entsprechend repräsentieren unterschiedliche Tutorials unterschiedliche Arten des Lehrens und provozieren ihrerseits unterschiedliche Arten des Lernens. Für die Umsetzung der konzeptionellen Idee, in einem Musizierlernhaus einer maximalen Vielfalt an Lernformen Raum zu geben, könnten sie daher überaus hilfreich sein.

 

Um etwas mehr Ordnung in diesen Bereich zu bringen, stelle ich im Folgenden Kategorien musizierbezogener Online-Videotutorials vor. Die verwendeten englischsprachigen Bezeichnungen stammen von mir und stellen den Versuch dar, für jede Kategorie einen möglichst knappen, dabei gleichzeitig anschaulichen, international verständlichen Begriff zu kreieren.

 

1. Masterclass Tutorial

Ein Masterclass Tutorial kennzeichnet sich dadurch, dass ein berühmter Künstler einen realen Schüler im Beisein von Publikum auf einer Bühne beziehungsweise einem bühnenähnlichen Setting unterrichtet. Die Unterrichtsszenerie wird lediglich abgefilmt, wobei alle Akteure die aufnehmende Kamera so behandeln, als sei sie nicht vorhanden. Vor allem der lehrende Künstler nimmt keinen Kontakt zu ihr auf und spricht somit nicht direkt zum Videozuschauer. Allenfalls wird das Publikum vor Ort vom Lehrenden miteinbezogen, wodurch sich der Videozuschauer ebenfalls indirekt angesprochen fühlen kann. Prinzipiell ist man als Zuschauer in derselben Rolle wie ein im Publikum sitzender passiver Teilnehmer des abgefilmten Meisterkursgeschehens. Man lernt durch Beobachtung des Meisters sowie durch empathisches Hineinversetzen in den unterrichteten Schüler und seine Lernprozesse.

2. Virtual Teaching Tutorial

Bei dieser am häufigsten anzutreffenden Form von Online-Videotutorials unterrichtet eine allein in einem Raum befindliche Lehrerin ohne realen Schüler direkt in die aufnehmende Kamera hinein. Über die Kamera als Medium spricht sie direkt zum Zuschauer, von dem sie annimmt, dass er sich auf die Ausführungen und Aufgaben von ihr als Lehrerin einlässt. Ein Großteil der virtuellen Schüler verbleibt dabei für die Lehrerin anonym, ebenso, wie der eventuell bewirkte Lernerfolg unsichtbar bleibt. Lediglich aus den in der Kommentarspalte hinterlassenen schriftlichen Posts kann sowohl die Lehrerin als auch ein neuer Lerninteressent schließen, ob das Lehren im Video bei anderen Menschen auch tatsächlich ein Lernen bewirkt hat und von welcher Art dieses war.

3. Artist’s Workroom Tutorial

Ein bekannter Musiker, meist allein, demonstriert seine Spielfähigkeiten vor einer laufenden Kamera und spricht dabei über seinen bisher beschrittenen Lernweg, die eigenen Arbeitsmethoden, den eigenen Personalstil sowie das eigene künstlerisch-ästhetische Empfinden. Tutorials dieser Art bieten einen seltenen und in vielen Fällen hochinteressanten Einblick in die künstlerische Werkstatt eines Musikers, ohne dass man als Zuschauerin dabei virtuell unterrichtet oder gar belehrt wird. Es handelt sich hier gewissermaßen um einen Paradigmenwechsel in der Lehrerrolle vom Lehrenden zum zeigenden Lernenden: Der Musiker erklärt und demonstriert sein eigenes Lernen anstatt jemand anderen zu unterrichten. Als Zuschauerin wird man nicht geführt, trainiert oder anderweitig pädagogisch behandelt, sondern kann das Dargebotene unbehelligt wahrnehmen, selbständig verarbeiten und aus den vielfältigen Inspirationen dasjenige auswählen und eigenständig auf sich selbst anwenden, was einem besonders relevant erscheint.

3a) Talk&Play Interview Tutorial

Eine Unterart dieser Kategorie stellt das Talk&Play Interview Tutorial dar, bei dem ein erfahrener Online-Videotutoriallehrer einen bekannten Künstler zu seinem Musizieren interviewt und dieser seine Ausführungen mit Kostproben seines Spiels versieht. Manchmal wachsen sich solche Interviews zu einer regelrechten Jamsession von Interviewer und Interviewtem aus.

3b) Role Model Tutorial

Eine weitere Unterart des Artist’s Workroom Tutorial ist das Role Model Tutorial, bei dem eine Musikerin sich selbst beim eigenen Lernen filmt. Es bietet ebenso einen Werkstatteinblick in die Arbeit der Künstlerin, hat jedoch den eindeutigen Fokus auf der Frage, wie Lernprozesse bei ihr ablaufen beziehungsweise wie sie eigene musikalische Bildungsprozesse gestaltet. Obgleich das Role-Model-Tutorial nicht nach Unterricht aussieht (und auch keiner sein will) hat es doch eine eindeutig vermittelnde Intention: Es geht um ein Lernen am Beispiel eines lernerfahrenen Künstlers, um das Abschauen von Handlungsweisen eines potenziellen Vorbilds.

3c) Rehearsal Tutorial

Eine weitere Unterart des Artist’s Workroom Tutorial entsteht, wenn das abgefilmte Proben eines Musikers oder Ensembles mit der Intention online gestellt wird, anderen Musikern Anregungen für ihre Probenarbeit zu geben. Wie beim Masterclass Tutorial wird auch hier der Videozuschauer von den Protagonisten nicht direkt angesprochen, sondern ausschließlich auf eine Beobachterrolle festgelegt. Anders als beim Masterclass Tutorial agieren die Künstler jedoch weder als Pädagogen noch als Vermittelnde, sondern gehen vollständig in ihrem Künstlersein auf, sind – was diesen Bereich ihres Lebens angeht – völlig authentisch. Häufig wird diese Art von Tutorial daher von einem externen Dokumentaristen produziert und online gestellt.

4. Virtual Ensemble Tutorial

Virtual-Ensemble-Projekte werden von einem Initiator mit dem Ziel ins Leben gerufen, Menschen zum gemeinsamen Musizieren im virtuellen Raum des Internet zusammenzubringen. Ziel ist es, ein für jeden Interessierten offenes, virtuelles Ensemble aus Menschen von überall auf der Welt zu formieren, die sich in der Regel nicht kennen und noch nie gemeinsam Musik gemacht haben. Im Laufe eines solch temporären Projektes begegnen sich die Mitmachenden nicht persönlich, denn das Musizieren findet ortsunabhängig und zeitversetzt statt, indem jede Teilnehmerin ihre Ensemblestimme zu Hause über den eigenen Computer mit Bild und Ton aufnimmt und anschließend die Videodatei auf eine Videoplattform hochlädt, von wo sie der Ensembleinitiator seinerseits wieder herunterladen kann. Aus allen eingegangenen Videos mischt er dann in einem Mehrspurprojekt mit seiner Videosoftware das Gesamtwerk zusammen und uploaded es als Endprodukt auf eben jener Videoplattform, von wo aus er das Projekt gestartet hat. So können nicht nur die Teilnehmerinnen, sondern alle interessierten Menschen das Ergebnis ansehen und anhören.

Der entscheidende Punkt für unser Thema ist, dass der Initiator Videotutorials erstellt, die zum einen den technischen Ablauf des Einspielens erklären und zum anderen Hinweise zur künstlerischen Ausführung geben. Jedes dieser Tutorials ist für sich genommen im Prinzip nichts anderes als ein Virtual Teaching Tutorial. Zusammen bilden sie hier jedoch eine eigene Videotutorial-Kategorie, da ihr Ziel ein kollaborativ erzeugtes künstlerisches Gemeinschaftsprodukt ist.

5. Stimmauszug-Tutorial

Eine Musikerin filmt, wie sie eine bestimmte Instrumentalstimme aus einem Popsong, einem Bandarrangement oder einer Orchesterpartitur mit demonstrierender Intention spielt, damit andere sich abhören und vor allem abschauen können, wie genau diese eine Stimme zu spielen ist. Ein Stimmauszug-Tutorial ist – wenn man so will – eine Art auf die Spitze getriebene Tabulatur, eine Griffschrift ohne Schrift, die das Spielen von Musik ohne Kenntnis von Noten ermöglicht. Allerdings geht es dabei oftmals nicht nur um das Greifen der richtigen Töne, sondern vor allem um den Parameter Sound und die Frage, welche spieltechnischen Kniffe angewandt werden müssen, damit das eigene Spiel genauso klingt wie das des musizierenden Vorbildes auf der Originalaufnahme.

In den meisten Fällen geschieht das Spielen der einzelnen Stimme parallel zur abgespielten Originalaufnahme, sodass man als Zuschauer beides, das Original und die live dazu gespielte, im Idealfall identisch gedoppelte Stimme hört und sieht. Von einem Stimmauszug-Tutorial zur Coverversion, bei der die Musikerin der ursprünglichen Fassung einer Stimme eigene Töne oder spieltechnische Eigenarten hinzufügt, besteht – zumindest in popularmusikalischen Kontexten – ein fließender Übergang.

6. Backingtrack Tutorial

Backingtracks sind eigens produzierte Begleitmusiken, bei denen die Hauptstimme oder eine Nebenstimme fehlt. Ein solcher Track kann beispielsweise zum Ziel haben, das Improvisieren in einer bestimmten Skala oder einem definierten tonalen Feld zu ermöglichen, wofür eine entsprechend geeignete und inspirierende, sich über mehrere Minuten wiederholende Begleitung zur Verfügung gestellt wird. Bei einem Backingtrack-Video ist daher allein die Audiospur wichtig. Zu sehen ist meist nur ein Standbild, das alle wichtigen Informationen zu Tonart, Tempo und Genre des Backingstracks enthält. Streng genommen sind Backingtrack Tutorials also gar keine Tutorials, da niemand lehrt und keine Musikerin im Bild erscheint. Sie werden aber vom User dazu gemacht, wenn er sie als Lern- und Übehilfe verwendet.

Eine Sonderform stellen Music-Minus-One-Tracks dar, bei denen mittels eines Karaoke-Algorithmus der Solopart aus einer Originalaufnahme ausgeblendet wurde oder eine einzelne Orchester- oder Chorstimme in einem eigens produzierten Midi-Arrangement fehlt. Sie sind dezidiert als Übehilfe konzipiert und fallen ebenfalls unter die hiesige Kategorie, sobald sie als Video auf eine Videoplattform hochgeladen werden.

7. Tech Talk Tutorial

Mehrere Musiker oder ein Musiker und ein Interviewer tauschen sich über ihre Instrumente, Effektgeräte, Verstärker und Signalketten aus oder diskutieren Aufnahmemethoden, Tricks in der Studioarbeit oder andere technikbezogene Themen, die mit dem Musizieren im Zusammenhang stehen. In die Kategorie des Tech Talk Tutorials fallen auch Videos, in denen Tour Techniker über ihre Arbeit sprechen und dabei das Live-Setup eines berühmten Bandmusikers vorstellen, erklären und vielleicht sogar selber demonstrieren.

8. Review Tutorial

Auch das Review Tutorial ist von sich aus kein Tutorial, sondern ein Produkttestvideo, in dem ein Musiker ein Instrument oder anderweitiges Equipment vorstellt, ausprobiert und bewertet. Ziel ist, potenziellen Käufern sowohl objektive Informationen als auch subjektive, aber unabhängige Eindrücke von dem getesteten Produkt an die Hand zu geben. Review Tutorials sind deswegen interessant, weil sie häufig von kompetenten Musikern hergestellt werden, die das Equipment nicht nur beschreibend, sondern musizierend vorstellen. Dabei improvisieren sie meist ungezwungen vor sich hin und geben dabei spannende Einblicke in ihre spontanen Musizierfähigkeiten und ihre spieltechnische Herangehensweise ans Instrument. Diese Dinge können wiederum von Usern als Lernquelle genutzt werden.

9. Philosophy of Music(making) Tutorial

Ein Musiker spricht über die allgemeine Bedeutung von Musik, dem Musikmachen, Üben, Lernen, Zuhören etc. ohne dabei selber zu spielen. Dabei vermittelt er seine eigene Sichtweise auf musikbezogene Dinge, mit der man sich als Zuschauer auseinandersetzen und die man auf sein eigenes Verständnis von Musik sowie sein eigenes Musikmachen beziehen kann.

10. Performance Tutorial

Bei einem Performance Tutorial handelt es sich um ein Konzertvideo, das mit einer pädagogischen oder zumindest vermittelnden Intention gefilmt wurde. Es geht in ihm nicht primär darum, ein Konzerterlebnis visuell möglichst eindrucksvoll einzufangen, sondern bestimmte Besonderheiten eines Liveauftritts so zu veranschaulichen, dass das Video anderen Musizierenden als Lernanregung dienen kann.

Dominiert bei Popkonzertmitschnitten normalerweise eine Ästhetik der schnellen Schnitte und verwackelter Handkamera-Closeups, würde ein Performance-Tutorial eher die Bühnentotale einfangen, um beispielsweise das vorab choreografierte oder aus der Situation heraus spontan sich ergebende Zusammenwirken der Musikerinnen besser wahrnehmen zu können. Auch wäre die Schnittfrequenz deutlich herabgesetzt. Bei Aufnahmen klassischer Konzerte hingegen, wo meist statisch installierte, vom Bühnengeschehen relativ weit entfernte Kameras mittels Teleobjektiv einzelne Instrumentalisten in genau jenem Augenblick hervorheben, in denen sie von der Partitur eine wichtige Rolle zugewiesen bekommen, würde ein eher vorausschauendes Abbilden mit schnelleren Schnitten jene vielfältigen Interaktionen zum Vorschein zu bringen versuchen, die die spezifische künstlerische Kommunikationskultur eben jenes Orchesters ausmacht.

So verstanden können Performance Tutorials eigentlich nur von (auch) praktizierenden Musikern angefertigt werden, denn nur sie können wissen, was an gerade ablaufenden, meist halb im Verborgenen stattfindenden Dingen auf der Bühne für das Lernen anderer Musiker interessant ist.

11. Progress Tutorials

In Progress Tutorials dokumentieren Menschen ihren instrumentalen Lernfortschritt, indem sie einzelne Momente ihres Spiels über eine Zeitspanne von wenigen Stunden bis zu mehreren Jahren aufnehmen und zu einem Gesamtvideo zusammenschneiden. Es gibt Progress Tutorials, bei denen die Autoren zusätzlich Ihren Lernprozess kommentieren, aber auch solche, die bloß das Musizieren der Videomacher in verschiedenen Entwicklungsstadien zeigen. Obwohl es bei letzterer Art nur ums Präsentieren des eigenen, anwachsenden Könnens geht, werden auch diese Videos zu einem Tutorial, sobald eine Zuschauerin sie als Motivationshilfe nutzt oder die Videoautorin anderweitig als Musiziervorbild heranzieht.

12. Mutual Learning & Teaching Tutorial

Vergleichbar mit Online-Nachhilfeunterricht, Übe-Coaching oder einem Lerntandem verfolgt ein Mutual Learning & Teaching Tutorial das Ziel, einer befreundeten Person konkrete Hilfestellung bei einem konkreten Problem zu geben beziehungsweise sich wechselseitig beim Lernen zu unterstützen. Solche Tutorials entstehen ebenfalls, wenn sich Mitschüler per Video und Textmessage einfach nur über das eigene Spiel austauschen. Weil diese Art von Tutorial meist an nur eine bestimmte Person gerichtet ist und entsprechend persönliche Informationen enthält, ist sie eher in sozialen Netzwerken als im öffentlichen Bereich von Videoplattformen zu finden.

13. Music Visualization Tutorial

Tutorials dieser Art sind dazu gedacht, Menschen das hörende Nachvollziehen von Musik zu erleichtern, indem bestimmte Aspekte einer Musik wie beispielsweise der Tonhöhenverlauf, das dynamische Geschehen oder andere musikalische Parameter filmisch-visuell sichtbar gemacht werden. Einige Tutorials setzen auch den emotionalen Gehalt beziehungsweise die emotionale Wirkung einer Musik auf die Autorin des Tutorials in Bilder um. Mittel der Wahl für die visuelle Realisation ist in den meisten Fällen die Computeranimation, zuweilen aber auch real abgefilmte Wirklichkeit. In gelungenen Fällen entwickelt die Visualisierung einen unabhängigen künstlerischen Reiz und bekommt – obwohl eins zu eins an die Musik gekoppelt – einen ästhetischen Eigenwert.

Wie so oft bei dem Versuch, vorgefundene Realität in begriffliche Schubladen zu packen, um sie besser verstehen und kommunizieren zu können, muss man auch hier festhalten, dass die meisten Online-Videotutorials Mischformen aus zwei oder mehreren der hier aufgeführten Kategorien darstellen. Trotzdem lässt sich anhand der vorgeschlagenen Kategorisierung gut erkennen, wie groß die Vielfalt an Lehr- und Lernformen ist, die in Online-Videotutorials zum Vorschein kommt. Einige Lehrformen, wie beispielsweise das Artist-Workroom-Tutorial, sind erst durch das neue Medium entstanden und werden auch nur innerhalb dieses Mediums gepflegt und weiterentwickelt.

 

 

Fazit

Indem verschiedene Kategorien von Online-Videotutorials unterschiedliche Arten der Vermittlung beziehungsweise vermittlungsorientierten Nicht-Vermittlung beinhalten, können sie unterschiedliche Lernbedürfnisse bedienen und so charakterlich differente Menschen an unterschiedlichen Stationen ihrer instrumentalen Entwicklung sehr gezielt und mit hoher Passung ansprechen.

Für die Praxis eines Musizierlernhauses Interessant sind nun zwei Dinge:

  1. Wie genau kann die Integration von Online-Videotutorials in ein Musizierlernhaus aussehen? Und was ist nötig, um sie gewinnbringend zu gestalten?
  2. Inwiefern können jene ungewöhnlichen Lehrprinzipien, die sich in Online-Videotutorials zeigen, auf die Live-Lehre übertragen werden und diese befruchten?

Um Antworten auf diese Fragen zu finden, braucht es vielfältige Experimente in der Praxis – je eher, desto besser. Denn noch ist es nicht zu spät, den Einfluss der Digitalisierung auf musikschulische Lernumgebungen aktiv zu gestalten. Bei der bereits vorhandenen Fülle an musizierbezogenen Online-Lernangeboten, von denen Videotutorials lediglich ein Teil sind, ist aber zu befürchten, dass dieser Gestaltungsspielraum in Zukunft schnell kleiner wird. Innerhalb einer Generation schon könnte die Institution Musikschule zu einem altmodisch-antiquierten Auslaufmodell werden, wenn die nötige Entwicklungsarbeit in Hinblick auf eine intelligente Verzahnung analoger und digitaler Musizierlernwelten verschlafen wird.