Diesen Beitrag teilen:

Vom Unterrichtsdeputat zur Präsenzzeit

 

von Andreas Doerne

 

 

Seit vielen Jahren schon spukt mir die Idee im Kopf herum, dass Musikschullehrer eigentlich aufhören sollten, ihre berufliche Arbeitszeit hauptsächlich mit dem Erteilen fest terminierter, formaler Unterrichtsstunden zu verbringen. Ich denke, dies sollte aus zweierlei Gründen geschehen: a) um die Autonomie der Schüler als verantwortlich lernende Individuen zu stärken, indem sie vermehrt zu selbstgesteuerten Bildungsbemühungen angeregt werden (die die Lehrenden zwar gezielt, aber nur situativ-punktuell begleiten müssen), und b) um Zeit und Muße zu gewinnen, sich wieder intensiver dem eigenen musikalischen Lernen zuzuwenden, das eigene Künstlersein weiterzuentwickeln und genau diese gestärkte Identität als Künstler wieder auf neue Art und Weise in die Musikschule einzubringen.

 

Was zunächst wie ein Aufruf zu Schülervernachlässigung und Lehrer-Egoismus klingen mag, ist bei Lichte betrachtet das genaue Gegenteil davon: Die Schüler werden in ihren ureigenen Lerninteressen bestärkt und in ihren autonomen Bildungsbemühungen bestmöglich unterstützt, dabei aber weitgehend in Ruhe gelassen und nicht durch gut gemeinte aber den autonomen Lernprozess zuweilen irritierende pädagogische Interventionen gestört. Die Lehrenden können – indem sie ihr eigenes künstlerisches Lernen und Suchen (re)aktivieren – verstärkt als lernender und lehrender Künstler anstatt als künstlerischer Lehrer innerhalb der Musikschule in Erscheinung treten und somit vielleicht zu einer völlig neuen Sinngebung des Musikschullehrerberufes gelangen. Einer Sinngebung, die meines Empfindens nach viel „natürlicher“ ist, weil sie von der Sache, nämlich dem eigenen Üben und Musizieren ausgeht und nicht das Lehren innerhalb von formalisierten Unterrichtskontexten in den Mittelpunkt der beruflichen Tätigkeit stellt. Einer Sinngebung, die mir auch nachhaltiger erscheint, weil sie die Chance erhöht, dass Musikschullehrer ihre berufliche Tätigkeit langfristig als erfüllend erleben.

 

Die entscheidende Idee zur Umsetzung dieses radikalen Gedankens ist relativ simpel:

 

Der Arbeitsaufwand einer Musikschullehrerin wird nicht weiter in Unterrichtsdeputat – also der Anzahl zu leistender Unterrichtsstunden – berechnet, sondern als Zeitkontingent definiert, für dessen Dauer die Lehrerin in der Musikschule anwesend ist. Unterrichtsdeputat wird also umgewandelt in Präsenzzeit.

 

Einher mit dieser ungewöhnlichen vertragsrechtlich-organisatorischen Maßnahme geht eine inhaltliche Erweiterung des Profils einer Musikschullehrerstelle. Der Arbeitsauftrag an eine Musikschullehrkraft in diesem neuen Kontext lautet dann eben nicht mehr, formalen Instrumentalunterricht nach Stundenplan zu erteilen, sondern für die als Präsenzzeit definierte Arbeitszeit in der Musikschule eigenverantwortlich künstlerisch-pädagogisch wirksam zu sein. Dies kann und soll geschehen durch:

  • Anregung und achtsame Beobachtung selbstgesteuerter Bildungsprozesse der Schüler, insbesondere ihres Übens,
  • situativ und spontan sich ergebende Unterrichtssequenzen von variabler Dauer in Einzel- oder Partnerunterrichtsform,
  • das Erteilen von Kursen oder Workshops mit Gruppen von Schülern, Schülern und Lehrern, oder nur Lehrern,
  • Spielen und Üben auf dem eigenen Instrument,
  • kammermusikalische Aktivitäten mit Schülern und Lehrerinnen,
  • die Durchführung eigener künstlerischer Projekte mit oder ohne Schülerbeteiligung,
  • die Begleitung künstlerischer Projekte von Schülerinnen und Schülern,
  • eigenes Musikhören,
  • Erweiterung des eigenen Hörhorizontes beispielsweise durch Stöbern in Musik-Streamingdiensten oder auf YouTube,
  • das Organisieren von Konzerten oder anderen Präsentationsformaten,
  • eigenes Musikproduzieren bzw. Hilfestellung bei Musikproduktionen anderer,
  • informelle Gespräche über Musik mit anderen Lernenden,
  • gemeinsames Reflektieren der im Haus entstehenden künstlerischen Produkte,
  • formellen und informellen Austausch mit Kollegen über Lernfortschritte und Lernbedürfnisse einzelner Schüler,
  • pädagogische Beiträge, die zur Entstehung und Festigung einer Kultur gemeinsamen Lernens aller an der Musikschule beteiligten Menschen führen (Lerngemeinschaft),
  • Vorträge,
  • bloßes Präsentsein.

Es liegt auf der Hand, dass dieses Aufgabenfeld in seiner Breite nur angegangen werden kann, wenn die Lehrenden frei über die zeitliche Ausgestaltung ihres Arbeitstages bestimmen können und nicht durch ein gewohnheitsmäßig auf Dauer gestelltes, die Arbeitstage auf Wochen und Monate hinaus präfixierendes Unterrichtszeitkorsett gegängelt werden. Um also Zeit für diese Vielfalt an Aufgaben zu haben, ist es meiner Ansicht nach unabdingbar, Unterrichtsdeputat in Präsenzzeit zu verwandeln und entsprechend die enge Struktur fester Unterrichtseinheiten im Tagesablauf von Lehrerinnen und Schülern aufzulösen.

 

Konkrete Folgen wären, dass:

  • Lehrer insgesamt mehr Zeit in der Musikschule verbringen, diese Zeit jedoch deutlich weniger verplant ist und für eine größere Vielfalt an künstlerischen und musizierpädagogischen Tätigkeiten verwendet werden kann,
  • der Grad an Freiheit und autonomer Gestaltungsmöglichkeit, damit aber auch der Verantwortung innerhalb des eigenen Berufes wächst,
  • sich Anforderung und Komplexität des beruflichen Tätigkeitsfeldes deutlich erhöhen, aber:
    • stereotype Routinen im beruflichen Alltag sich auf ein Minimum reduzieren – die Gefahr von Langeweile und Unterforderung also geringer wird,
    • berufliche Fortbildung und inhaltlicher Input für die persönliche Entwicklung auf informelle Art und Weise integraler Bestandteil der eigenen Tätigkeit sind,
    • das berufliche Arbeitsfeld fluide bleibt und immer für Veränderungen und Weiterentwicklung offen ist;
  • das Zusammenwachsen der Lehrenden zum Team, Absprachen untereinander und die Zusammenarbeit auf künstlerischer, pädagogischer und organisatorischer Ebene unter den Lehrern wichtiger wird (regelmäßige Teamsitzungen!).