Diesen Beitrag teilen:

Musikalische Bildung - ein Spezialfall

 

von Klara Baumann

 

 

Ich möchte eine Sichtweise auf den Bereich Bildung in unserer Gesellschaft vorstellen und erörtern, welche Konsequenzen sich in diesem Zusammenhang für den, wie es mir scheint, Spezialfall musikalischer Bildung ergeben. Meine Perspektive ist die, dass man gesellschaftliche Phänomene als Systeme auffassen kann, deren Funktionsweisen beschreibbar sind und deren Beziehungen untereinander und zum Gesamt der Gesellschaft analytisch betrachtet werden kann.

 

Innerhalb unseres Gesellschaftssystems bilden die allgemeinbildenden Schulen zusammen mit fortführenden Bildungsinstitutionen wie Universitäten, Berufsausbildungsstätten etc. die Bildungsstruktur, die als zentral empfunden wird. Denn für ein erfolgreiches Teilhaben innerhalb der Gesellschaft sind diese Bildungssysteme für jedes einzelne Individuum unumgänglich. In Deutschland geht die Schulpflicht sogar so weit, dass auf die von der Gesellschaft für Bildung vorgesehenen Institutionen gar nicht verzichtet werden kann, anders als z.B. in den USA, wo home schooling erlaubt ist. Diese Bindung an die gesellschaftlichen Bildungsinstitutionen beruht auf der gesellschaftlichen Annahme, dass die dort vermittelten Bildungsinhalte bzw. deren Bildungsziele unverzichtbar sind für eine erfolgreiche Integration des einzelnen in die gesamtgesellschaftliche Struktur. Aus utilitaristischer Perspektive entspräche solch eine erfolgreiche Integration der Übernahme einer bestimmten Funktion innerhalb eben dieser etablierten Gesellschaftsstruktur. Die schulische Bildung soll also eine Berufsausbildung ermöglichen, die wiederum die Übernahme einer gesellschaftlichen Aufgabe, eines Berufes, ermöglicht. Aus humanistischer Perspektive entspräche Bildung einem angestrebten Mindestanspruch an ein Menschsein, für das diese Gesellschaftsstruktur steht. So oder so erscheint der Gesellschaft jene Bildung jedenfalls als unverzichtbar für ihr Fortbestehen. Um dieses abzusichern besteht das Bedürfnis jene als unverzichtbar empfundene Bildung zu steuern. So sind die grundlegenden Strukturen dieses Systems bis in die höchsten hierarchischen Instanzen hinein geregelt. Selbst wenn eine Institution (z.B. eine Privatschule) sich aus dem System ausklammern will, gelingt dies höchstens anteilig. Große strukturelle Teile bleiben dennoch vom Gesamtsystem der Gesellschaft bestimmt, sofern diese Institution von der Gesellschaft als (einigermaßen) gleichwertig anerkannt sein will: Dies sind grundlegende Strukturen wie die Forderung nach Prüfbarkeit von Bildung, aber auch die Festlegung bestimmter Bildungsinhalte.

 

Musikalische Bildung stellt innerhalb des Gesamt der Bildung insofern einen Sonderfall dar, als dass sie nur schwach an die zentral empfundene Bildung geknüpft ist. Zwar gibt es in Schulen das Fach Musik, doch gehört es weder zu den Kernfächern, wie Mathe, Deutsch und Sprachen, auf die zu keiner Jahrgangsstufe und in keiner Abschlussprüfung verzichtet wird, noch repräsentiert das Schulfach adäquat eine umfassende musikalische Bildung. Das Musikmachen spielend am Instrument, singend oder komponierend, findet primär außerhalb der allgemeinbildenden Schulen statt: entweder an Musikschulen, im Musikvereinen oder durch Privatunterricht. Der Kernbereich musikalischer Bildung ist also nicht im zentralen Bildungssystem – den unumgänglichen allgemeinbildenden Schulen – verankert. Er ist für eine erfolgreiche Teilhabe in der Gesellschaft verzichtbar, weil er von eben dieser Gesellschaft für ihr Fortbestehen nicht als zwingend relevant angesehen wird. Der Musikunterricht an Schulen erfüllt den musikalischen Minimalbildungsanspruch unserer Gesellschaft.

 

Aufgrund dieser Einschätzung musikalischer Bildung besteht vom Gesellschaftssystem auch ein geringeres Bedürfnis der Steuerung und Kontrolle dieser Bildung jenseits der allgemeinbildenden Bildungsinstitutionen (ausgenommen die musikalische Berufsausbildung). Nun muss man nicht erst komplexes philosophisches Gedankengut des Poststrukturalismus anführen um elementar festzustellen, dass jegliche Form von System einengende, einschränkende, determinierende, normierende, konformierende, diskriminierende (…) Züge aufweist und dass dessen Einschränkungen umso stärker sind, je detaillierter und dabei gleichzeitig unflexibler die Struktur des Systems gestaltet ist. Da seitens unseres Gesellschaftssystems ein nur geringes Bedürfnis besteht, die organisatorischen und inhaltlichen Strukturen des Kernbereichs musikalischer Bildung zu steuern, genießt dieser somit im Verhältnis zur zentralen Bildungsstruktur das Privileg größerer Freiheiten in Bezug auf ihre strukturelle und inhaltliche Gestaltung. Es gibt keinerlei Lehrpläne für Instrumentalunterricht, welche die Unterrichtsinhalte vorgeben. Es gibt keine vorgegebenen Unterrichtsstrukturen, alles ist theoretisch möglich. Es gibt keine Forderung nach Leistungskontrolle, es müssen keine Prüfungen vorbereitet werden. Das Erlernen von einem Musikinstrument kann verhältnismäßig frei von äußeren präexistenten Zwängen stattfinden.

 

Doch scheint sich musikalische Bildung trotz dieser Freiheiten an den Zwängen allgemeiner Bildungsinstitutionen zu orientieren. Unterricht findet ebenfalls in starren, regelmäßigen, immer gleichen Unterrichtseinheiten statt. Flexibilität lassen nur wenige Musikschulen über ein Zehnerkartensystem zu, was in der Regel auch nur Erwachsenen zugänglich ist. Zwar gibt es keine offiziellen Lehrpläne, doch versteckt sich ein traditioneller, unflexibler, gleichbleibender Lehrplan im instrumentalen Unterrichtsmaterial, wie den gängigen Instrumentalschulen. Nicht selten verwendet ein Lehrer dasselbe Material für alle seine Schüler. Wo Individualität organisatorisch beim traditionellen Einzelunterricht so einfach möglich ist, wird darin Gleichmachung angestrebt. Obwohl keine Prüfbarkeit von Unterrichtsinhalten strukturell gefordert wird, hat der Blasmusikverband zur angeblichen Motivations- und Leistungssteigerung in den 1980er Jahren die Jungmusikerleistungsabzeichen eingeführt, welche erst 2005 um eine neue Kategorie „Junior“ erweitert wurden. Auch einige Musikschulen weisen inzwischen

ein internes Leistungsprüfungssystem auf.

 

Man könnte noch viele Aspekte mehr aufzählen. Wäre es nicht an der Zeit, dass musikalische Bildung ihre Freiheitsprivilegien voll nutzt und ihre Strukturen von Grund auf überdenkt und bewusst gestaltet?