Diesen Beitrag teilen:

Täglicher Musizierunterricht aber ohne Noten – eine Alternative?

von Marcel Nikoleiski


Wenn ich an meine eigenen ersten Musikunterrichtsstunden zurückdenke, habe ich viele gute Erinnerungen. Nur die Wartezeiten bis zur nächsten Stunde waren mir immer lästig –  lieber hätte ich gleich am nächsten Tag zusammen mit meinem Lehrer weiter musiziert. Beim gemeinsamen Musizieren ist m. E. die Dynamik einfach besser; oft braucht es gar kein stures, wochenlanges Studieren von Noten, damit sich musikalisches Verständnis, instrumentales Können und das Körperbewusstsein des Schülers/der Schülerin weiterentwickelt – so zumindest meine Erfahrung: damals, als Saxophon-Schüler, und heute auch als Lehrer.

 

Gemeinsames tägliches Musizieren kennen die meisten Musik-Schüler*innen (und ihre Lehrer*innen) hauptsächlich von intensiven Ensemble-Probenphasen. In den letzten Jahren habe auch ich größtenteils in gefestigten Strukturen unterrichtet: 30 bis 60 Minuten, einmal pro Woche – danach heißt es für die Schüler*innen eine Woche warten und üben. Doch was passiert, wenn Lehrer und Schüler*innen nicht nur ein- bis zweimal pro Woche, sondern beispielsweise über zwei Monate lang täglich zusammen proben? Welche Dimensionen und Lehrerfolge eröffnen sich, wenn es in den täglichen Unterrichtseinheiten nicht primär um die Erarbeitung von Noten und Literatur, sondern um das reine Musik-Erleben geht?

 

Ich habe dieses „Experiment“ im Jahr 2019 gewagt. Das Orchester „El Sonido de Balanya“ aus Guatemala bekam die Chance, ein Klarinettenregister neu zu gründen und sie beauftragen mich mit der Implementierung des Projekts. Strukturell gestaltete sich die Pilot-Phase des Klarinettenregisters als Gruppenunterricht über zwei Monate, Unterricht über ein bis zwei Stunden täglich, mit fünf jungen Klarinettist*innen. Die Schüler*innen waren zu diesem Zeitpunkt im Alter von 12 bis 15 Jahren und vom Kenntnisstand in Bezug auf ihre musikalischen Vorerfahrungen sehr heterogen: Die Jüngsten hatten keinerlei praktische Erfahrung mit Musik gemacht, während die älteste Spielerin bereits seit drei Jahren Querflöte im Streichorchester spielte und Klarinette als zusätzliches Instrument lernen wollte. Da der Ort Balanya relativ klein ist, kannten sich alle Kinder und Jugendlichen sehr gut. Meine Spanischkenntnisse waren zu diesem Zeitpunkt auf wenige Worte und Wendungen begrenzt, sodass ich auf die Unterstützung der Jugendlichen angewiesen war. Wir unterrichteten uns sozusagen gegenseitig.

 

Die größten Chancen zeigte der tägliche Musizierunterricht gleich zu Beginn des Projekts. Während man beim „klassischen“ wöchentlichen Unterricht oftmals auf Noten zurückgreift, um Schüler*innen in der langen, unterrichtsfreien Zeit mit Material zu unterstützen und zum Üben anzuhalten, war das schriftliche Notenbild beim Balanya-Klarinettenregister in den ersten Wochen nicht von Bedeutung. Durch das tägliche, gemeinsame Musizieren bestand keinerlei Notwendigkeit von Noten. Ich hielt die Schüler*innen stattdessen an, ihren Fokus auf die körperliche Dimensionen - den Kontakt zum Instrument, die Verbindung zu den Mitmusiker*innen, den stetigen Fluss des musikalischen Pulses und die Harmoniewechsel der begleitenden „Band“ – zu legen: Wie fühlen sich lange Töne im Fluss der Harmonien an? Zu welchen Tönen zieht es mich? Wie viele Töne benötige ich, um eine Geschichte zu erzählen? Kann ich eine Melodie wiederholen - sofern sie mir gefällt? Das verknüpfende Element der Musizieraktionen war dabei das lange und ohne Unterbrechung durchlaufende Metrum, in Verbindung mit einer sich gleichmäßig wiederholenden Harmonieabfolge und dem simultanen Spielen in der Gruppenimprovisation. Am Ende jeder unserer Unterrichtseinheiten reflektierten wir und notierten relevante Melodien und Rhythmen, die wir gemeinsam ganz ohne Vorlage erspielt hatten.

 

Die Gruppenimprovisationen ergänzte ich durch ein Jazz Trio Play-Along sowie Call & Response – genauso wie es in mündlich tradierter Musik der Fall ist. Gerade der große Fundus von Jamey Aebersolds live musizierten Play-Alongs, beispielsweise in Form zweitaktiger Vamps über einzelne Tonarten, bietet eine gelungene musikalische Grundlage für erste Improvisationsversuche und fühlt sich auch in längeren Loops erstaunlich lebendig an. Die Melodiephrasen des Circle Songs „The Lion Sleeps Tonight“ und der entsprechenden Pentatonik waren in sehr kurzer Zeit auswendig gelernt und hatten grundsätzlich enormes „Ohrwurm-Potential“. So hatte der gleiche Song viele verschiedene Facetten zu bieten. Auf der einen Seite gab es die schriftlich festgelegte Grundstruktur des Songs, bestehend aus Harmonie- und Melodiepattern. Auf der anderen Seite konnte jede*r Musiker*in durch verschiedene Arten der Improvisation frei über den Song spielen. Dadurch entdeckte jede Spieler*in mehr eigene Melodien, als sie jemals von Noten hätte spielen können - was enormes Erfolgserleben und eine außergewöhnlich hohe Motivation der jungen Klarinettist*innen zufolge hatte.

 

Die Vorteile und Unterschiede zu wöchentlichem Unterricht waren allerdings noch sehr viel tiefgreifender: Für die Schüler*innen war es einfacher an vorherige Musiziereinheiten anzuknüpfen, da die musikalischen Erlebnisse noch viel bewusster in Erinnerung waren. Dadurch war es sehr leicht für mich als Lehrer, das Erleben von Musik vielschichtiger zu gestalten und sich auch von der ausschließlichen Beschäftigung mit dem Instrument zu lösen. Bemühungen, das Instrument technisch zu bewältigen - welche im „klassischen“ Unterricht schnell die volle Zeit in Anspruch nehmen - geraten in den Hintergrund. So konnte ich in Balanya, beispielsweise, auch musikalische Einheiten zu Groove, Puls, Rhythmik in Form von Body Percussion und Sprache anbieten, ohne mich auf notiertes Material stützen zu müssen. Das körperliche Erleben möglichst vieler musikalischer Dimensionen stand dabei immer im Mittelpunkt und ging langfristig nicht verloren, da man am nächsten Tag auf vielfältige Art und Weise direkt daran anknüpfte. Die Musizieraktionen waren zeitlich weniger durch die Aufnahmefähigkeit und Konzentration der Musiker*innen limitiert als vielmehr durch die körperlichen Anforderungen der Klarinette an die Spieler*innen. So pendelte sich der zeitliche Umfang einer Musiziereinheit nach ca. einer Woche auf eine Stunde aktives Musizieren mit dem Instrument und anschließender Reflexion ein.

 

Das Notenlesen bekam in Folge meines Unterrichts erst schrittweise mehr Bedeutung. Angefangen vom Rhythmus und Guide Tone Line Schreiben, bis hin zu selbst improvisierten kurzen Melodien. Dank des gemeinsamen, stetigen Improvisierens und Komponierens und v.a. durch das Gespräch darüber am Ende jeder Einheit, konnten alle junge Klarinetten-Schüler*innen am Ende des Projektzeitraums flüssig Noten lesen und schreiben.

 

Auch pädagogisch lässt sich das Balanya-Projekt als Erfolg verbuchen: Nicht nur zeigten die Schüler*innen sehr viel mehr Freude im Vergleich zu meinem „klassischen“ Unterricht, - mitunter auch, weil den Noten ihre Fremdheit und Abstraktheit genommen war - sondern auch sozial bedingte Aspekte beim Peer-Learning, wie z.B. gegenseitige Unterstützung und Rücksicht bekamen eine sehr viel wichtigere Bedeutung. Trotzdem konnte sich jede*r Schüler*in, durch die stark differenzierte Unterrichtsstruktur und die vielfach abgestuften, in der Improvisation individuell ansteuerbaren Schwierigkeitsgrade, absolut ideal entwickeln. Auf der anderen Seite spielt das konkrete, individuelle Niveau keine besondere Rolle, da jede*r zu einer Gruppenimprovisation auf jedem Niveau etwas beitragen kann und der Einzelne im Gesamtgefüge auf- oder sogar fast untergehen darf. Ein gelungener Beitrag muss nicht unbedingt extrem virtuos sein!

Wir alle waren auf unterschiedlichen Niveaus (die Schüler musikalisch, ich sprachlich) und trotzdem schafften wir es, durch den Gesamtklang aller Klarinetten, durch gleichzeitiges, freies Spiel eine klangliche Blase zu schaffen, die uns allen einen geschützten Space zum Experimentieren bot. So konnte jede*r ausprobieren, ohne sich zu schämen; den anderen zu- oder von ihnen abschauen und von ihren Lernfortschritten profitieren, aber auch bewusst die Mitschüler*innen unterstützen oder einfach nur pausieren und lauschen. Jede*r konnte auf seine eigene Weise Vertrauen in sich selbst und sein Instrument fassen und sich, ganz ohne Zeit- und Notendruck, dem augenblicklichen Empfinden öffnen.

 

Das tägliche Unterrichten war auch für mich eine völlig neue Situation und die Möglichkeiten und das extreme Potential haben mich selbst überrascht. Betrachtet man das Musizieren aus einer am Lernziel orientierten Perspektive, fiel besonders das hohe Lerntempo der Schüler*innen auf und der Spaß, den sie am „Unterricht“ hatten. Der strukturelle Rahmen des täglichen Musizierens in Gruppen ist zudem wie gemacht für Teamteaching, da Lehrer*innen nicht nur Musizieraktionen anleiten können, sondern auch aktiv mitmusizieren. Der zur Verfügung stehende Zeitraum war mit bis zu drei Stunden am Vormittag jedes Tages sehr großzügig gewählt und bot neben meinen vorgeplanten Einheiten viel Raum für freies Musizieren. Das tat auch meiner persönlichen Konzentrationsfähigkeit und Motivation gut. Ich selbst stand als Lehrer weniger im Fokus, hatte mehr Ruhe, Prozesse geschehen zu lassen und zu beobachten. Gleichzeitig konnte ich zusammen mit allen Spielenden aktiv musizieren und als ein gleichwertiger Teil der Gruppe am Musizieren teilnehmen. Individuelle Impulse setzte ich – wenn nötig – durch kurze, individuelle Gespräche mit den jeweiligen Musiker*innen während der laufenden Gruppenimprovisation.

 

Das Improvisieren hat mir trotz der für meine Arbeit verhältnismäßig großen Gruppen fast ausschließlich positive Erfahrungen gebracht und meine Arbeit mit diesem Konzept nicht nur bestärkt, sondern regelrecht neugierig auf größere Projekte dieser Art gemacht und einige, weitere Fragen aufgeworfen: Was passiert, wenn derartige Projekte nicht nur in der eigenen Instrumentenfamilie stattfänden, sondern je nach Situation in wechselnden Besetzungen? Welchen Prozess nähmen Musiker*innen und Musizieraktionen wenn nicht immer „anleitende“ Lehrer*innen anwesend sind, sondern Peer-Groups genauso häufig miteinander musizieren können.

Gerade was den letzten Punkt betrifft, sehe ich enorme Chancen in zeitlich nicht limitierten Musizierlernhäusern - egal ob man in der Peer-Group, wechselnden Besetzungen oder mit der „Lehrperson“ musiziert.