Reflexion:

Bildung in der Demokratie – Bildung zur Demokratie

 

von Stefan Goeritz

 

 

Wie anfällig sind doch Gesellschaften für autoritäre Systeme… Russland, Türkei, Ungarn, Polen – keine Länder mit großen demokratischen Traditionen… Großbritannien, Frankreich, Niederlande, Deutschland, USA…. Hier sollten „die Menschen,“ wie die „Wählerinnen und Wähler“ in Deutschland von den Politikern im Wahlkampf seit Ende der 90 er Jahre einfachheitshalber bezeichnet werden, die Demokratie doch mit der Muttermilch eingesogen haben. Nun sind Mütter und Väter keine demokratisch gewählten Institutionen, demokratische Organisationsstrukturen können in Familien erprobt werden (wohin fahren wir dieses Jahr in Urlaub?), das Sagen hätte eine Mehrheit aber auch dann wahrscheinlich nicht, wenn sie der gesetzlichen Unmündigkeit entwachsen wäre. Also: Wann kommen Kinder mit der Demokratie in Berührung? Wann lernen sie diese als bestmögliches System kennen?

Im Kindergarten? In der Schule?

 

In der Schule treten Kinder hierzulande mit ihren Länderregierungen in Kontakt, schließlich ist ein Großteil der Lehrer ja verbeamtet. Schulen sind eine der ersten Manifestationen des Staates, den Kinder bewusst erleben. In Deutschland herrscht Schulpflicht. Die Schule, sie besteht in den Augen eines Kindes zunächst einmal in der Person des Klassenlehrers, darf darüber bestimmen, wer sich wann wo zu welchem Zweck einzufinden hat. Sie darf in der Schulordnung über die Regeln des Zusammenlebens bestimmen, sie darf Verstöße ahnden, bestrafen bis hin zum Freiheitsentzug. Schulen dürfen ständig Leistungs- bzw. sogar Charakterbewertungen abgeben. In Schulen herrscht in dieser Mischung keine Gewaltenteilung. Wer die Gesetze macht führt diese auch aus und richtet über ihre Einhaltung. Diese Machtfülle hat aus der Sicht der Kinder absolut keine demokratische Legitimation.

Was dürfen die Schüler denn wählen? Den Lernstoff? Sicher nicht, wo kämen wir denn da hin? Was würden die sich denn aussuchen? Computerspiele? Shoppingtips?

Nein, das wird vom Bildungssystem bestimmt, von Fachleuten, die wissen, was man wissen muss. Nein, die wissen, dass man wissen muss, was sie für richtig wichtig halten, was meist jeweils zufällig den Fächern entspricht, die Einzelne von Ihnen selbst interessier(t)en. Da haben wir es schon in der ersten Klasse, das „System“, das von Trump so hervorragend und

publikumswirksam beschworen werden konnte, um einen Kampf gegen einen angeblich unfairen Gegner mit unfairen, sprich undemokratischen Mitteln zu rechtfertigen.

Kindern, die ja gesetzlich unmündig sind, wird nicht zugetraut, die richtigen Lerninhalte für sich zu wählen, so weit so fragwürdig, aber auch den Eltern wird kein Mitspracherecht zugebilligt, die ja, sofern sie aus Deutschland stammen, selbst in diesem Bildungssystem ihre Mündigkeit erlangt haben (sollten)! „Elterneinmischungen“ in Schulabläufe, so konstruktiv oder störend sie im Einzelnen eingebracht oder empfunden werden, beziehen sich meist auf organisatorische oder pädagogische Fragestellungen, selten auf inhaltliche, denn wer ist da ansprechbar? Der allgegenwärtige Lehrplan?

 

Nicht einmal die Lehrer dürfen frei gewählt werden. Sicher nicht, wo kämen wir denn da hin? Da würden ja plötzlich alle bei Herrn/ Frau XXX im Klassenzimmer sitzen. Man darf also nicht mitbestimmen, wer einem beibringt, was man wissen oder nicht wissen will. Man darf auch diejenigen nicht wählen, die beurteilen werden, ob man das gut genug weiß, was man gleich

wieder vergessen haben wird. Also werden in einer „vierzügigen“ Schule 75 % der

Schüler zu den anderen Lehrern eingeteilt , die man nicht auch dann nicht gewählt

hätte, wenn dies möglich gewesen wäre. Im Anschluss darf diese nicht gewählte Exekutive

auch darüber urteilen, ob diese 75% sich dieser Situation angemessen verhalten,

nämlich stillhalten. Mindestens. Besser mitarbeiten, kollaborieren.

 

Demokratie? Was darf man an Schulen wählen? Den Vertrauenslehrer. Den Klassensprecher. Den Schülersprecher. Sie alle sind Teil dessen, was man als „Schülermitverantwortung“ betitelt. Früher hieß das Schülermitverwaltung, ein wesentlich ehrlicherer Titel, besagt der doch, dass Schüler sich in die Verwaltung, nicht aber in die Regierung mit einbringen dürfen. Jetzt werden die Schüler für ein System, in dem sie nicht mitbestimmen dürfen, aber mit zur Verantwortung gezogen. Oder ist alles noch viel schlimmer: Schüler Mitverantwortung bedeutet, sie seien sogar mitverantwortlich für ihre Bildung? Mitverantwortlich? Schüler sind sogar vollverantwortlich für ihre Bildung, mitverantwortlich können allenfalls Lehrer sein. Bildungsteilhabe für Lehrkräfte wird gefordert. Eltern dürfen den Eltern-bei-rat wählen, was besagt, dass die Beiräte eigentlich kein Amt innehaben sondern den Amtsinhabern beigeordnet werden. Schulen sind also weder direktdemokratisch, Gott bewahre, auch gibt es keine gewählten Repräsentanten, weder der Schüler- noch der Elternschaft, die ein institutionell manifestiertes Mitentscheidungsrecht haben. Aber das ist doch trotzdem Demokratie: Wir dürfen alle vier Jahre zwischen den bildungspolitischen Programmen der Parteien wählen, an die diese sich bei einer eventuellen Regierungsübernahme oder bei einer Fortführung der Regierungsgeschäfte (natürlich!) nicht halten müssen.

 

Demokratie ist nicht die Freiheit, sich für eine bestimmte Milchsorte zu entscheiden. Demokratie ist nicht die Freiheit, einen Rechtsanwalt zu wählen, wenn man mit „dem System“ in Konflikt geraten ist. Demokratie heißt, da wählen zu dürfen, wo regiert wird und wo die Regeln bestimmt werden. Wenn Schülern während ihrer gesamten Schulzeit nicht

zugetraut wird, in den entscheidenden Fragen für sich selbst Verantwortung zu übernehmen, darf man sich nicht wundern, wenn sie nicht an die Demokratie glauben. Die da oben machen ja doch was sie wollen. Wenn sie den Wahlen entweder fernbleiben oder es „dem System“ mal so richtig zeigen wollen. Und dann feuert das Volk die Gladiatoren an, sich zur allgemeinen

Unterhaltung gegenseitig abzuschlachten, thumbs up.  Vollkommen inhaltsleere, "postfaktische" Wahlkämpfe beleidigten einen zu kleinen Teil der Absolventen unserer westlichen demokratischen Bildungssysteme. Gefährlichen 40 % der Wähler gefällt das.

Und dann sind sie wieder da, die Lehrer, die Demokraten, die schreien: Was habt ihr denn jetzt schon wieder angerichtet? Wir wussten doch gleich, dass ihr zu blöd seid!

Wo anders können sich junge Menschen demokratisch bilden, als in der Bildung?

Wo anders kann eine demokratische Kultur besser entwickelt werden als in der Kultur?

 

 

Diese Reflexion bemüht sich nicht um eine gerechte oder ausgewogene Darstellung. Ich bin selbst ein Teil unseres Bildungssystems, bin hier „groß geworden“ und darf hier in einem freien Medium frei meine Meinung äußern. Dafür bin ich sehr dankbar. Ich möchte niemanden verletzen oder

gar beleidigen, der in unserem Bildungssystem nach bestem Wissen und Gewissen seinen Dienst tut. Ich möchte nicht Kindern und Jugendlichen Misstrauen ins Herz säen gegen das Haus und die Menschen, die sie täglich sehen. Ich möchte meinem Schock und meiner Traurigkeit über die

US-Wahlen, über das Brexit-Votum, über den Niedergang der Demokratie in der Türkei, über die allgegenwärtige Hasskultur im Internet und auf den Straßen Ausdruck geben, indem ich

(selbst)kritisch frage, ob die Krise der Demokratien nicht trotz, sondern auch wegen unserer Bildungskultur entstehen konnte.