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Musikalische Mündigkeit als Ziel

 

von Klara Baumann

 

 

Im Laufe seiner Geschichte wurde der Begriff der Mündigkeit – und wird es auch immer noch – mit verschiedenen Bedeutungen und Interpretationen belegt. Ausgehend von einem rechtlich-sittlichen Verständnis des Begriffes in der Antike erweiterte sich spätestens seit der Aufklärung und des Neuhumanismus sein Bedeutungsspektrum um verschiedene bildungstheoretische Auslegungen.[1] Besonders ab der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg genießt der Begriff eine große Beliebtheit in der deutschen Bildungsdiskussion. Auch wenn seine Attraktivität sicher auch in den „rhetorischen Effekte[n]“[2] begründet sein mag, die z.B. Rieger-Ladich der Verwendung der „Pathosformel“ Mündigkeit attestiert, so ist sie doch zentral darin zu suchen, dass der Begriff ein komplexes aber elementares menschliches Anliegen bündelt. Dieses Anliegen ist in seiner Bedeutung für unser Selbstverständnis heute noch genauso aktuell wie zur Zeit der Aufklärung, die Immanuel Kant in dem bekannten Zitat aus seinem Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung“ als „den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“[3] definierte. Warum also den Bildungsanspruch der Mündigkeit nicht auch für eine musikalische Bildung formulieren?

 

Ohne der Komplexität des wissenschaftlichen Diskurses zum Begriff Mündigkeit gerecht werden zu können, soll hier die Idee einer musikalischen Mündigkeit vorgestellt werden. Basis für diesen Entwurf stellt Kants eben schon erwähnte Schrift dar, die – besonders was ihre Rezeptionsgeschichte angeht – am klarsten den Bedeutungsumschwung von einem primär rechtlichen Begriffsverständnisses zu einem philosophischen und auch bildungstheoretischen markiert. Erstaunlicherweise – bedenkt man die bedeutende Rolle, die dieser Schrift für die Bedeutungsgeschichte des Begriffes Mündigkeit zukommt – verwendet Kant kein einziges Mal den Begriff der Mündigkeit. Er definiert diese nur indirekt über ihren Gegensatz, über die Unmündigkeit, die er als „das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“ begreift.[4] Übergeht man hier großzügig die potentielle Problematik einer direkten Umkehrung dieser Aussage, so kann Mündigkeit gemäß Kant ganz elementar als das Vermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen, verstanden werden. So kurz und fasslich diese Definition auf den ersten Blick erscheint, so ist sie doch schwer im Detail zu greifen – erst recht, wenn man sie auf die Lebenswelt Musik anwenden will.

 

Wie bedient man sich musikalisch seines Verstandes? In gängigen Beschreibungen von Umgangsformen mit Musik erkenne ich zwei Betrachtungsweisen oder Ebenen. Auf der einen Ebene wird der Umgang mit Musik als intuitiv beschrieben, der musikalisch Handelnde sei zur Musik geboren, er wird als Bauchmusiker bezeichnet, der seinem Bauchgefühl folgt. Er greift in seinem Handeln auf implizites Wissen der erworbenen musikalischen Sprache zurück und agiert damit als musikalischer „Muttersprachler“ vor dem Erwerb expliziten grammatikalischen und syntaktischen Wissens. Er bedient sich seines Verstandes auf unbewusste Art und Weise. Auf der anderen Ebene wird reflektiert und aktiv denkend mit Musik umgegangen, es wird mit explizitem Wissen gearbeitet, das vielleicht erst just für eine spezifische musikalische Handlung angeeignet wurde. Der Musiker wird als kopfgesteuert wenn nicht sogar pejorativ als verkopft beschrieben. Er behandelt Musik als Sprache, deren Grammatik und Vokabeln analytisch betrachtet werden können, und begegnet Musik als Sprachwissenschaftler oder geht mit ihr wie mit einer Fremdsprache um. Er bedient sich seines Verstandes auf bewusste Art und Weise.

 

Was bedeutet es nun auf dem Hintergrund dieser Betrachtungen sich musikalisch seines Verstandes zu bedienen? Nach Kant muss man, um mündig zu sein, in der Lage sein, sich seines Verstandes zu bedienen und zwar ohne Leitung anderer. Das heißt nicht nur, dass man ohne eine hierarchisch von außen auferlegte Anleitung anderer handelt, sondern auch, dass man sich – schon von solch „fremder Leitung freigesprochen“[5] – nicht trotzdem aus Bequemlichkeit von anderen lenken lässt. Man soll also anderen nicht die Möglichkeit geben, sich „zu Vormündern aufzuwerfen“[6], die das Denken für einen selber übernehmen. Kant führt als Beispiel an, dass man andere Menschen dafür bezahlen könne, das Geschäft des Denkens zu übernehmen, seien es Seelsorger oder die gekauften Bücher. Man gibt seine Mündigkeit in dem Moment auf, in dem man unhinterfragt das gekaufte Denken übernimmt. Radikal durchdacht muss „selbst denken“ in seiner reinsten Form aber schließlich nicht nur frei von jener Leitung anderer sein, die entweder hierarchisch in Form auferlegter, fremder Leitung in Erscheinung tritt oder durch Bequemlichkeit aktiv gewählt wird, sondern auch von jener, die subtil Einfluss nimmt, die manipuliert und versucht, das eigenständige Denken der Individuen von diesen unbemerkt zu übernehmen. Nur der stete Prozess der Reflexion über das eigene Denken und Handeln kann solcher ungewollter Einflussnahme entgegentreten und ist somit Voraussetzung für wahre Eigenständigkeit bei der Bedienung des Verstandes und folgerichtig des eigenen Handelns. So definieren Dietrich Benner und Friedhelm Brüggen Mündigkeit in der Einleitung zu ihrem Artikel „Mündigkeit“ im Nachschlagewerk Historisches Wörterbuch der Pädagogik in „bildungstheoretischer Hinsicht“ als die „Fähigkeit des Menschen, die eigene Lebensführung reflektieren und zu dieser sowie zu den Formen des menschlichen Zusammenlebens Stellung nehmen zu können“.[7] Sie setzen einen Schwerpunkt auf den Reflexionsprozess in Bezug auf das eigene Handeln und aus der Reflexion ergebend auf eine inhaltliche Positionierung zum eigenen Handeln an sich einerseits und andererseits im Kontext der verschiedenen Handlungsmöglichkeiten. Mündigkeit verlangt hier einen sehr bewussten Umgang mit den eigenen Handlungsoptionen und der Handlungswahl. Das Moment der Reflexion und Stellungnahme vereint die beiden Bestandteile der Kantschen Definition: Um zu reflektieren muss man sich erstens „seines Verstandes bedienen“ und zweitens muss dies ein eigenständiger Prozess sein, der das Potential bietet, statt sich einfach unüberlegt anderen anzuschließen, sich von solch möglicher „Leitung anderer“ zu befreien und schließlich dann sich aus sich selbst heraus inhaltlich zu positionieren, also Stellung zu nehmen in Bezug auf die Handlungsoptionen. Versucht man die Definition von Benner und Brüggen in den Bereich Musik zu übersetzen, könnte man musikalische Mündigkeit folgendermaßen definieren: Die Fähigkeit von Musikern, das eigene musikalische Handeln autonom reflektieren und zu diesem sowie zu den Formen des musikalischen Zusammen-Handelns Stellung nehmen zu können. Um musikalisch maximal frei von fremder Einflussnahme, eigenständig und damit musikalisch potentiell mündig zu sein, erfordert es beim Musiklernen also unbedingt die Einbeziehung der zweiten von mir oben beschriebenen Ebene, die des bewussten, reflektierten Umgangs mit Musik und dem eigenen musikalischen Handeln. Solch ein Umgang mit Musik sollte von Beginn an angeregt und gefördert werden, sodass musikalische Bildung einen zeitgerechten Anspruch ans Menschsein erfüllt.

 

 

[1] Vgl. Manfred Sommer: Art. „Mündigkeit“ in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bnd. 6. Basel 1984.

[2] Markus Rieger-Ladich: Mündigkeit als Pathosformel: Beobachtungen zur pädagogischen Semantik. Konstanz 200, S. 259

[3] Immanuel Kant: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ in: Berlinische Monatszeitschrift. Dezember-Heft 1784, S.481

[4] Ebd. S.481

[5] Ebd. S. 481

[6] Ebd. S. 482

[7] Dietrich Benner u. Friedhelm Brüggen: Art. „Mündigkeit“ in: Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim/Basel 2004 , S.678