Musizierphilosophie


So wie es einen Begriff von Kunst braucht, um dem Musiklernen eine künstlerische Ausrichtung zu geben, braucht es eine Vorstellung vom „guten“ Musizieren – eine Musizierphilosophie –, um dem Musizierenlernen Fundament und Orientierung zu geben. Diese Vorstellungen vom Musizieren können und sollen verschieden sein – je nachdem in welchem Musikstil man sich bewegt. Werden sie jedoch völlig beliebig oder verbleiben sie unreflektiert, entstehen Probleme. Die nur auf den ersten Blick banal anmutende Frage „Was ist Musizieren?“ wird so von einer Randfrage zur existenziellen Kernfrage, um deren Beantwortung kein musizierender Mensch und auch keine musikbezogene Bildungsinstitution herumkommt.

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 Andreas Doerne


 

Die Einheit des Musizierens

 

Musizieren, Instrumentalspiel im weitesten Sinne, ist eine integrierende Betätigung, indem es viele Einzelfunktionen miteinander sinnvoll kombiniert und in ganzheitlicher Weise zusammenbringt.[1]

Claus C. Schnorrenberger

 

Bis hierher wurde der Weg beschritten, den eine wissenschaftlich-systematische Abhandlung üblicherweise geht, nämlich über die Gliederung des untersuchten Gegenstands in seine Einzelteile hin zu einer möglichst genauen Betrachtung der dabei zum Vorschein kommenden Elemente. Eine solche Differenzierung des Musizierens in einzelne Dimensionen und ihre mannigfachen Bestandteile ist für die Verdeutlichung seines umfassenden Wesens unumgänglich. Zeigt sich doch nur so die enorme Weite des Feldes, das die Tätigkeit des Musizierens einnimmt. Aber stimmt diese im Zuge theoretischer Modellbildung vollzogene Trennung des Musizierens in einzelne Dimensionen und ihre Bestandteile wirklich mit der musizierpraktischen Realität überein? Oder ist es bloß ein Abstraktum, das, obgleich es den Gegenstand des Musizierens in gewisser Hinsicht erhellt, die innere Wirklichkeit eines musizierenden Menschen nicht adäquat wiedergibt?

Tatsächlich existiert in Bezug auf die konkrete Musizierpraxis ein zentraler Aspekt, der in der weiter oben erfolgten Aufgliederung bisher nicht ausdrücklich genannt wurde. Es ist das beim Musizieren erfahrbare Zusammenfinden aller genannten Dimensionen und Aspekte zu einer Einheit. Christoph Richter formuliert diese für sein eigenes Musizieren wichtige Erfahrung folgendermaßen:


Sollte ich selbst sagen, warum ich zu den musizierenden Menschen gehöre, so wäre meine Antwort: […] weil ich mich beim Musizieren als ‚Einheit‘ aus Bewegung, Gefühl, Denken, Handeln empfinde.[2]


Das Zusammenfinden im alltäglichen Kontext oft getrennter Bereiche des Menschseins, das ganzheitliche und darüber hinaus eigenaktive Einbezogensein in Prozesse des Lebens übt auf Menschen eine große Faszination aus. So beschreibt Richter sein subjektives Erleben für die Zeitdauer des Musizierens als bestimmt durch den Eindruck von Einheitlichkeit. Betrachtet man allerdings die beim Musizieren entstehende, mitunter unüberschaubare und daher nicht einfach zu koordinierende Vielheit an Ereignissen, das in jeder einzelnen Dimension zum Vorschein kommende dichte Gefüge an Sinneswahrnehmungen, die Polyphonie von Tätigkeitsanforderungen, den Wechsel und das Ineinander von Aktionen und Reaktionen – kurz: zieht man die enorme Komplexität des Musizierens in Betracht, erscheint eine solche Äußerung alles andere als selbstverständlich. Zumal der notwendige Grad an Differenzierung mit zunehmender Schwierigkeit der gespielten Werke eher zu- als abnimmt. Und trotzdem ist für Richter wohl gerade diese nicht unbedingt zu erwartende Erfahrung von Einheit das, was ihn immer wieder aufs Neue zum Musizieren motiviert.

Der Philosoph und Bewusstseinsforscher Thomas Metzinger beschreibt die Einheitserfahrung phänomenaler Bewusstseinsinhalte als Folge der holistischen Struktur des menschlichen Geistes und bewertet sie als höchste Qualität des Bewusstseins:


Unser Bewusstseinsraum hat – als ganzer betrachtet – eine nicht zu leugnende holistische Qualität. Das bedeutet, dass die verschiedenen Formen von phänomenalem Gehalt, die in ihm aktiv sind, nicht in Elementbeziehungen zu der durch sie entstehenden Gesamtheit stehen, sondern in Teil-Ganzes-Beziehungen. Dieser Holismus phänomenaler Zustände ist eine ihrer höherstufigen Eigenschaften, genau wie ihre Transparenz, Perspektivität oder Präsenz. Die Einheit des Bewusstseins ist eine höchststufige Eigenschaft des jeweils aktiven phänomenalen Modells der Wirklichkeit. Die globale Einheit des Bewusstseins in diesem Sinne einer konkret erlebten Ganzheitsqualität höchster Stufe scheint die allgemeinste phänomenologische Eigenschaft des bewussten Erlebens überhaupt zu sein.[3]


Es scheint, als würde durch eine so vielfältige Tätigkeit wie das Musizieren gerade diese globale Einheit des Bewusstseins in besonderem Maße aktiviert. Das bedeutet, dass der Faktor Komplexität nicht nur kein Hindernis für das subjektive Erlebnis von Einheitlichkeit darstellt, sondern dass er umgekehrt die Entstehung dieses einheitlichen Bewusstseinszustandes unterstützt. Dafür ist jedoch eine wesentliche Voraussetzung erforderlich: Das Moment der Integration muss so bestimmend sein, dass das Feld einzelner Elemente sich zu einer holistischen Struktur organisiert, deren Kennzeichen die gegenseitige Bindung im Sinne von Teil-Ganzes-Beziehungen ist. Entsprechend wird im Falle eines gelungenen Musizierens die bei jedem Üben notwendigerweise stattfindende Herauslösung und Betrachtung einzelner Teile des gespielten Werkes sowie die allmähliche Ausdifferenzierung des musikalischen Darstellungsprozesses in seine Dimensionen und jeder Dimension in seine Bestandteile durch umfassende Integration begleitet, sodass als Ergebnis nicht eine zersprengte Vielheit, sondern eben ein in sich verbundenes Ganzes, nämlich die als Einheit empfundene Tätigkeit des Musizierens steht.

Diese Integrationsleistung ist in hohem Maße bedeutend für den Prozess (den Spielvorgang und seine Wahrnehmung durch den Musiker) wie auch für das Produkt (das Klangergebnis). Umso verwunderlicher ist es, dass im instrumentalpädagogischen Diskurs nur selten die Frage auftaucht, wie diese mit dem Musizieren idealerweise einhergehende Integration beschaffen ist und was genau ihre Qualität ausmacht. Entsprechend gibt es kein Modell, das sich um eine fundierte Klärung dieses Sachverhaltes bemüht. Und das ist doppelt verwunderlich, denn ließe sich die Entstehung der Einheit des Musizierens nachvollziehbar darstellen, wäre sie auch vermittelbar.

 

Musizieren als System

Schon bei der getrennten Betrachtung der körperlichen, der emotionalen und der kognitiven Dimension fiel auf, dass es prinzipielle Gemeinsamkeiten, ja sogar Überschneidungen gibt und dass in Bezug auf das Musizieren alle drei Dimensionen äußerst eng zusammenhängen. Es gibt keine ausdrucksstark klingende instrumentale Körperbewegung, die nicht in irgendeiner Form mit einer emotionalen Bewegung einhergeht oder von einer bereits bestehenden emotionalen Bewegtheit beeinflusst wäre. Genauso sind kognitive Prozesse und Gedanken bei allen körperlichen Spielaktionen und emotionalen Zuständen beteiligt. Darüber hinaus gilt:

  • Jede noch so unscheinbare Spielgeste kommuniziert, jeder interpretatorische Gedanke ist das Resultat einer kommunikativen Auseinandersetzung, jede emotional aufgeladene musikalische Äußerung ist eine Mitteilung an die Umwelt – sei sie nun programmatischer oder selbstoffenbarender Art.
  • Sowohl der Musizierende als auch die Musik und das Instrument sind zugleich Resultat und Ausgangspunkt einer zeitlichen Entwicklung und daher durchdrungen mit Geschichte. Die individuelle Art und Weise, mit der ein bestimmter Mensch eine bestimmte Musik musiziert, ist immer auch geschichtlich bedingt.
  • Die spirituelle Dimension einer Musizierhandlung äußert sich nicht bloß über das Geistige, sondern auch über das Körperliche und das Emotionale. Die intensivste Kommunikation findet dann statt, wenn der Musiker einen Zustand der Selbsttranszendenz erreicht, in dem er nicht mehr ausschließlich mit der eigenen Person beschäftigt ist, sondern in einem umfassenden Sinne (körperlich, emotional, geistig und wahrnehmungsbezogen) offen und durchlässig für Mitteilungen der verschiedenen Kommunikationspartners wird.
  • Die drei Sinneswahrnehmungen Hören, Fühlen und Sehen steuern im Verbund den gesamten Spielprozess und sind in jeder Dimension enthalten. Spielbewegungen werden durch kinästhetische Wahrnehmung beeinflusst, das äußere Sehen prägt kognitive Prozesse, das innere Sehen veranschaulicht musikalische Gedanken, das Fühlen des eigenen Körpers macht Emotionen bewusst, erhöht ihre innerpsychische Präsenz und erweitert so den musikalischen Ausdrucksradius. Von der Qualität der Wahrnehmung hängt in jedem Augenblick aufs Neue die Qualität des Klangergebnisses ab.
  • Jede Interpretation trägt etwas Improvisatorisches in sich, jede Improvisation enthält Anteile von Komposition und jede Komposition bedient sich zumindest in ihrer Entstehungsphase der Improvisation als eines Werkzeugs zur Materialgewinnung und ist des Weiteren angewiesen auf musizierte Interpretation, will sie nicht klanglose Schrift bleiben. In jedem Spiel, egal welcher Art von Musik, kommen interpretatorische, improvisatorische und kompositorische Elemente vor.

Dies sind nur einige Beispiele für das gegenseitige Durchdrungensein aller Teile des Musizierens. Es wird deutlich, dass in der Praxis keine Dimension für sich allein steht. Kein Aspekt des Musizierens erscheint jemals vollständig abgetrennt von anderen Aspekten. Mensch, Musik und Instrument sind für die Dauer des Musizierens integrale Teile eines sie umfassenden Ganzen. Das praktische Musizieren ist derart gestaltet, dass die Ansprache einer Dimension immer auch alle anderen Dimensionen „mitschwingen“ lässt. Sogar beim konzentrierten Üben eines einzigen Aspektes einer instrumentalen Handlung sind Einflüsse auf und Beeinflussungen von anderen, zu diesem Zeitpunkt ausgeblendeten Bereichen vorhanden. Die Vermutung ist daher nicht unbegründet: Die Einheit des Musizierens ist kein Supplement, keine zusätzliche Fertigkeit, die wie die meisten anderen instrumentalen Fertigkeiten über Jahre eingeübt werden muss, sondern Ausgangspunkt und konstitutiver Bestandteil jeder Musizierhandlung. Die Grundanforderung an den Musizierenden ist es folglich, in jedem Augenblick des Spielens diese Einheit zu aktivieren, zu aktualisieren, ein Gleichgewicht zwischen den Dimensionen herzustellen und aus dieser ausbalancierten Präsenz einer umfassenden Einheit heraus zu musizieren.

Als Bild sei hier das Mobile angeführt: Es besteht aus vielen einzelnen, räumlich voneinander entfernten Teilen, die über Stangen und Bänder miteinander verbunden sind und sich durch ihr Gewicht gegenseitig ausbalancieren. Befestigt sind sie alle gemeinsam an einem zentralen Faden. So bilden sie trotz ihrer Vielheit ein einheitliches Ganzes. Stößt man nun ein Element an, werden aufgrund der vielfältig vorhandenen Verbindungen alle anderen Elemente ebenfalls in Bewegung versetzt. Ein schwacher Lufthauch genügt, und die Elemente vollführen einen „Tanz“, der durch seine Abgestimmtheit und Ausgewogenheit das schwebende Gleichgewicht der gesamten Konstruktion als zusammenhängende Einheit offenbart. Die Zerbrechlichkeit dieses Zustandes zeigt sich jedoch umgehend, wenn wegen einer nicht mehr kompensierbaren Gewichtsverlagerung bzw. Beschwerung eines Teils ein zu starkes Ungleichgewicht entsteht, das ganze Mobile kippt und die Elemente nur noch schlaff und scheinbar leblos herunterbaumeln. Obwohl kein Teil fehlt, ist die Ganzheit zerstört.

Ebenso wie das Mobile, ist das Musizieren gekennzeichnet durch Vielfältigkeit seiner Bestandteile auf der einen und Einheitlichkeit durch Vernetzung und Strukturbildung auf der anderen Seite. Ein Gegenstand oder Phänomen mit diesen Merkmalen wird in der Wissenschaft fachübergreifend als System bezeichnet. Der Systemtheoretiker und Kybernetiker Frederic Vester konstatiert:


Die wichtigsten Eigenschaften eines Systems sind, daß es erstens aus mehreren Teilen bestehen muß, die jedoch, zweitens, verschieden voneinander sind und, drittens, nicht wahllos nebeneinander liegen, sondern zu einem bestimmten Aufbau miteinander vernetzt sind. Wobei das Netz nicht unbedingt sichtbar sein muß, sondern auch aus Wirkungen bestehen kann, die durch Kommunikation, und zwar durch reinen Informationsaustausch zustande kommen.[4]


Der Kommunikationstheoretiker Paul Watzlawik präzisiert:


Jeder Teil eines Systems ist mit den anderen Teilen so verbunden, daß eine Änderung in einem Teil eine Änderung in allen Teilen und damit dem ganzen System verursacht. Das heißt, ein System verhält sich nicht wie eine einfache Zusammensetzung voneinander unabhängiger Elemente, sondern als ein zusammenhängendes, untrennbares Ganzes.[5]


Ludwig von Bertalanffy, der Begründer der Allgemeinen Systemtheorie, unterscheidet daher zwischen summativen und konstitutiven Charakteristika systembildender Teile:


We can also say that summative characteristics of an element are those which are the same within and outside the complex; they may therefore be obtained by means of summation of characteristics and behaviour of elements as known in isolation. Constitutive characteristics are those which are dependent on the specific relations within the complex; for understanding such characteristics we therefore must know not only the parts, but also the relations. […] The meaning of the somewhat mystical expression ‘the whole is more than the sum of its parts’ is simply that constitutive characteristics are not explainable from the characteristics of isolated parts. The characteristics of the complex, therefore, compared to those of the elements, appear as ‘new’ or ‘emergent’.[6]



 

 

Abb. 7: Summative und konstitutive Beziehung zwischen Elementen [BV 389_Doerne_Abb. 7]

 

Die charakteristischen Eigenschaften eines Systems ergeben sich nicht aus einer Summierung der Eigenschaften der Elemente, sondern aus dem Geflecht von Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen den Elementen. Das heißt nicht, dass die Eigenschaften der Elemente bei einer Analyse des Systems vernachlässigenswert wären. Es bedeutet bloß, dass die ausschließliche Betrachtung der Eigenschaften der Elemente nicht zu einem vollständigen Bild des Systemganzen führt.

Begreifen wir das Musizieren als ein System, ergibt sich daraus, dass die spezifische Qualität eines Musiziervorgangs nicht ableitbar ist aus einer Summierung der Qualitäten innerhalb der einzelnen Dimensionen, sondern dass zu einem wesentlichen Maß der Zwischenbereich, die Intensität an Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen den Dimensionen sowohl prozess- als auch produktbezogene Qualitäten des Musizierens generiert. Folgende Abbildung veranschaulicht diesen Sachverhalt:





Abb. 8: Geflecht konstitutiver Beziehungen zwischen den Dimensionen des Musizierens im Spannungsfeld von Interpretation, Improvisation und Komposition [BV 389_Doerne_Abb. 8]

 

Das Einheitserlebnis ergibt sich aus eben dieser intensiven Vernetzung der Dimensionen. Es resultiert aus dem Systemcharakter der Tätigkeit, der je nach Art und Weise des jeweiligen Übens und Musizierens ständig aktualisiert oder eben vernachlässigt wird. Je vordergründiger konstitutive Charakteristika der einzelnen Teile des Musizierens für den Spieler selbst werden, d. h. je mehr konstitutive Systemeigenschaften in seinem Spiel auftauchen, desto einheitlicher wird er den Vorgang des Musizierens erleben.

Der Arzt und Musiker Claus C. Schnorrenberger ist einer der wenigen, die versucht haben, sich dem Phänomen der Einheit des Musizierens von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus zu nähern. Sein Modell einer Phänomenologie des Musizierens benennt zwölf Elemente (Hören, Sehen, Musiktheorie, Training, Technik, Bewegung, Körpergefühl, Atem, Vorstellung, Klang, Gedächtnis, Persönlichkeit) und stellt den Beziehungsaspekt der Elemente untereinander als wichtiges Merkmal heraus. Auch Schnorrenberger kommt zu dem Schluss, dass sich das dabei zum Vorschein kommende Ganze wie ein System im Sinne der Allgemeinen Systemtheorie verhält. Im Rückgriff auf die Terminologie seines Hauptberufes als Mediziner bezeichnet er einen Musiker als gesund, wenn dieser sein künstlerisches Handeln am Prinzip der systemischen Natur des Musizierens ausrichtet.


Es handelt sich hier also letztlich um eine regelkreisartige Wirkung im Sinne der modernen Systemtheorie, bei der alle Elemente ihren Stellenwert haben. […] Zwischen dem gesamten System, den Elementen und schließlich auch der Umwelt, d. h. dem Zuhörer oder dem Publikum, besteht auf diese Weise eine enge Kopplung und Kommunikation. […] Ist all das gewährleistet, verfügen wir über ein gutes Funktionieren unseres musizierenden Geist-, Seele- und Körperganzen und sind als Musiker gesund.[7]


So wie der Mensch jederzeit ein systemisches Ganzes bildet, ist das Musizieren als ein System bestehend aus Mensch, Musik und Instrument jederzeit ein in sich verbundenes Ganzes. Die Frage ist daher nicht, ob eine Einheit aller Dimensionen des Musizierens möglich ist bzw. wie man von einem Zustand des Nicht-Vorhandenseins zu einem des Vorhandenseins dieser Einheit gelangt, sondern wie die sowieso bestehende Einheit qualitativ beschaffen ist, d. h. wie intensiv die Vernetzung der einzelnen Teile ist und wo es gegebenenfalls Störungen gibt. Pädagogisch betrachtet geht es also nicht darum, die Einheit des Musizierens zu erlernen, als vielmehr ihr von Beginn an vorhandenes Wirkungspotenzial gezielt zu fördern sowie eine übermäßig häufige Anwendung separierender Verhaltensweisen und eine daraus resultierende Reduktion des Spielprozesses auf einzelne Aspekte zu vermeiden. Das bei nicht gelingendem Musizieren häufig zu beobachtende Nebeneinanderher getrennter Handlungsfelder und das daraus sich ergebende Auseinanderfallen der einzelnen Felder in ihre Unterbestandteile ist keineswegs zurückführbar auf einen naturgemäß gegebenen, der Komplexität des Gegenstands Tribut zollenden Mangel an instrumentalen Fähigkeiten, sondern häufig die Folge falscher, weil nicht systemischer Herangehensweisen an das Musizieren.[8] Genau so wichtig wie jede einzelne Dimension, ist also das, was zwischen den Dimensionen steht: das komplexe Netz von gegenseitigen Abhängigkeiten und Wechselbeziehungen.

 

Musizieren und Selbstorganisation

Eine wichtige Funktion von Systemen ist die Gestaltung der innersystemischen Vielheit und damit einhergehend die Reduktion von Komplexität. In gewisser Hinsicht „ordnen“ Systeme ein vorhandenes bzw. drohendes Chaos von Einzelteilen, indem sie eine übergeordnete Struktur erzeugen. Dies geschieht durch Zusammenfassung von Teilen zu einer Gruppe und durch Anordnung dieser Gruppen in hierarchisch gestaffelte Ebenen. Diese Funktion wird umso bedeutender, je komplexer das Gesamtsystem ist. Nur durch ein solches Ausbilden von Subsystemen kann ein komplexes System Stabilität erreichen.[9]

Angesichts der Notwendigkeit, viele unterschiedliche Handlungen, Gedanken und Gefühle beim Musizieren gleichzeitig koordinieren zu müssen, ist der Umgang mit Komplexität eine der dringendsten Forderungen, die die Kunst des Musizierens an den Menschen stellt. Jeder Musizierende muss eine Strategie entwickeln, die es ihm ermöglicht, diese Herausforderung erfolgreich zu bewältigen. Dabei kommt es nicht selten zur Wahl pathologischer Formen, die weniger einen konstruktiven Umgang mit Komplexität als vielmehr dessen Abwehr zum Ziel haben.

Eine häufig zu beobachtende pathologische Form des Umgangs mit Komplexität ist beispielsweise das Ausbilden von Stresssymptomen. Dazu zählen eine übermäßig angespannte Körperhaltung, das hektisch-ruckartige Ausführen von Spielbewegungen, eine ausgeprägte innere Fixierung auf das Prinzip des Kontrolle-Ausübens sowie eine gesteigerte Aggressionsbereitschaft, die sich entweder als Autoaggression (Herabwertung des eigenen Spiels und daraus resultierend der eigenen Person) oder als aggressives Verhalten gegenüber dem Instrument äußert. Aber auch das Gegenteil kommt vor: Eine unterspannte Körperhaltung mit schlaffen und ohne Direktion ausgeführten Spielbewegungen sowie eine allgemeine Unlust bezeugen ein durch die Komplexität der Situation verursachtes Gefühl des Überfordert-Seins. Klar ist, dass keine der beiden Umgangsweisen ein befriedigendes Klangergebnis hervorbringt und daher auch zu keinem den Spieler befriedigenden Musizieren führt.

Die gängige Erklärung für erfolgreiche Komplexitätsbewältigung beim Musizieren ist das Prinzip der Automation. Es bezeichnet das „Absinken“ zuerst bewusst voneinander getrennter und absichtlich gesteuerter Teilhandlungen in das Unterbewusste, von wo aus sie dann „automatisch“, d. h. ohne bewusste Aufmerksamkeitszuwendung ablaufen. Sind genügend Teile einer Musizierhandlung entsprechend durchgearbeitet und „automatisiert“, erscheint dem Spieler eine vorher als schwierig eingestufte Spielsequenz als einfach. Die Erfahrung, die sich einstellt, ist der weiter oben erwähnten Es-Spielt-Erfahrung nicht unähnlich: Der Musizierende hat das Gefühl, dass sein Spiel wie von selbst abläuft.

Der Begriff der Automation als Sinnbild für instrumentale Lern- und Spielprozesse ist allerdings fragwürdig. Schon seine Wortbedeutung steht im Widerspruch zur bezeichneten Wirklichkeit. Der Vergleich einer Tätigkeit mit einem Automaten, also einem Ding, geht von einen Zustand aus, den man als nicht bewusst bezeichnen muss. Ein Automat tut genau das – und nur das – wozu er konstruiert bzw. worauf er programmiert wurde. Er ist nicht zu einem situationsgerechten Anpassen seines Handelns fähig und kann eigenständig keine alternativen Handlungsweisen hervorbringen. Aufgrund fehlenden Bewusstseins ist die bei wenigen modernen Automaten scheinbar vorhandene Kreativität nichts anderes, als die Kreativität ihrer Ingenieure. Das Üben eines Instruments geschieht aber gerade mit dem Ziel, noch nicht wahrgenommene Eigenheiten der Musik wahrzunehmen und unbewusste, mitunter fehlgesteuerte instrumentale Spielbewegungen in einem Prozess der Durchleuchtung bewusst zu machen, gegebenenfalls zu transformieren und dadurch das Spiel insgesamt zu entwickeln. Ein solches Üben, obgleich es mit dem Ziel der „Automatisierung“ von Teilhandlungen erfolgt, umgeht also nicht das Bewusstsein, sondern setzt im Gegenteil Bewusstheit voraus. Die Tätigkeit des Musizierens wirkt in dem Augenblick erfüllt und lebendig, wenn das Denken, das Fühlen und die Spielabläufe nicht in einmal eingeübter Starrheit bloß reproduziert, sondern trotz „automatischen“ Ablaufs immer flexibel an die jeweilige Spielsituation (das Ambiente, die Akustik des Raumes, das jeweilige Instrument, die jeweilige Stimmung des Interpreten etc.) angepasst werden. Darüber hinaus ist ein inspiriertes und die Zuhörer gleichermaßen inspirierendes Spiel nicht denkbar ohne den Faktor des Neuen, Überraschenden, Unvorhergesehenen: der Kreativität. Automation jedoch bedeutet Routine und impliziert daher eine Abgeschlossenheit von Erkenntnis- und Entwicklungsprozessen, die einmal abgespeichert, nur noch nach dem Prinzip größter ökonomischer Effizienz reproduziert werden. Abgesehen davon setzt der Begriff der Automation ein technokratisches Bild vom Menschen voraus, das gerade im Bereich der Kunstausübung nicht unhinterfragt übernommen werden sollte.

Was ist also genau gemeint, wenn von „Automation“ im Zusammenhang mit dem Musizieren die Rede ist? Wie sieht ein „gesunder“ Umgang mit der beschriebenen Komplexität aus?

Ein adäquates Erklärungsmodell ist das von der Kognitionspsychologie beschriebene Prinzip des Chunking.[10] Ausgehend von der experimentell nachgewiesenen Theorie über die Kurzzeitgedächtnisspanne von Menschen, die auf sieben (plus/minus zwei) gleichzeitig zu bewältigende Informationseinheiten beschränkt ist, meint dieser Begriff das Zusammenfassen und Verbinden von einzelnen Informationselementen zu einer Gruppe. Obwohl in einer Gruppe mehrere Elemente vorhanden sind, beansprucht jede Gruppe nur eine der sieben möglichen Informationseinheiten. Das Bilden dieser Chunks (engl. = Klotz, dickes Stück) ist also im Wesentlichen eine Integrationsleistung: Einzelne Teile des Musizierens (Wahrnehmungs­informationen, kognitives Wissen, Bewegungsmuster etc.) werden je nach musikalischem Sinnzusammenhang und spieltechnischer Notwendigkeit zu Bündeln zusammengefasst und fungieren im Folgenden als Einheit. Ganze Bündel können ebenso wieder zu einer Einheit zusammengefasst werden usw.[11] Der Musikpädagoge Francis Schneider schreibt:


Unser Gehirn ist es gewohnt, Informationen in Gruppen zu verarbeiten. Es ist ihm möglich, sich gleichzeitig mit mehreren solcher Gruppen zu beschäftigen. […] Ihre Anzahl ist beschränkt (auch ein Genie hat nicht mehr davon!), ihre Größe nicht. Es geht nun darum – vereinfacht ausgedrückt –, diese Gefäße so zu vergrößern, damit in jedem dieser ‚chunks‘ nicht nur ein einzelner Ton, sondern vielleicht ein Akkord, ein ganzer Takt oder gar eine ganze Phrase Platz haben. Ein einfaches Beispiel: Für das Verständnis des C-Dur-Dreiklangs braucht der eine Schüler 3 ‚chunks‘: je einen für das c, das e und das g. So sind 3 von rund 7 ‚chunks‘ also bereits besetzt. Ein anderer Schüler betrachtet diesen Dreiklang als Einheit c-e-g als eine Information, einen Gedanken, einen Griff: er braucht dazu nur einen einzigen ‚chunk‘ und hat somit noch 6 weitere frei.[12]


Es bilden sich so die bei Metzinger beschriebenen Teil-Ganzes-Beziehungen. Die Töne c-e-g sind Teile der Ganzheit C-Dur-Akkord. Diese Ganzheit besetzt als kognitive Repräsentation im Gehirn eines Menschen einen Chunk und bildet somit eine Informationseinheit. Die hierarchische Tiefe dieses Chunks besteht aus zwei Ebenen (Einzeltöne, Akkord). Lernt ein Schüler nun den Begriff der Kadenz kennen und übt sich im Spielen von Kadenzen am Instrument, wird die Ganzheit C-Dur-Akkord wiederum zu einem Teil der übergeordneten Ganzheit Kadenz. Der als eine Informationseinheit gespeicherte Chunk Kadenz weist eine hierarchische Tiefe von nunmehr drei Ebenen auf: Die Einzeltöne c-e-g als je ein Ganzes sind Teil der Ganzheit Akkord, die wiederum Teil der Ganzheit Kadenz ist. Für eine solche Ineinanderschachtelung von Teilen und Ganzen prägte Arthur Koestler den Begriff des Holon:


Ein Teil, im üblichen Sinne des Wortes, ist etwas Fragmentarisches und Unvollständiges, das für sich allein keine Existenzberechtigung aufweist. Andererseits neigen die Ganzheitstheoretiker dazu, den Ausdruck ‚Ganzes‘ oder ‚Gestalt‘ für etwas in sich Vollständiges zu verwenden, das keiner weiteren Erklärung bedarf. Ganze und Teile in dieser absoluten Bedeutung existieren aber nicht […] In Wirklichkeit finden wir auf mehreren Stufenebenen intermediäre Strukturen von zunehmendem Ordnungsgrad. Jede davon zeigt zwei Gesichter, die in entgegengesetzte Richtungen schauen; das Gesicht, das den niedrigen Ebenen zugewandt ist, ist das eines autonomen Ganzen, das nach oben gerichtete ist das des abhängigen Teiles. Ich habe […] vorgeschlagen, für diese janusgesichtigen Teilganzen den Ausdruck ‚Holon‘ zu verwenden – vom griechischen holos = ganz, mit dem Suffix -on (Neutron, Proton), das ein Teilchen oder einen Teil andeutet. Das Konzept des Holons soll dazu dienen, die fehlende Verbindung zwischen Atomismus und Holismus herzustellen und die dualistische Denkweise, die nur ‚Teil‘ und ‚Ganzes‘ kennt und die so tief in unseren Denkgewohnheiten wurzelt, durch einen vielschichtig-hierarchischen Ansatz zu ersetzen.[13]


Die interne Struktur eines Chunks entspricht der von Koestler beschriebenen Struktur eines Holons. Die Bildung eines Holons/Chunks lässt sich in vier Stufen gliedern:

  1. unstrukturierter Haufen,
  2. Differenzierung,
  3. Integration,
  4. strukturiertes Holon/Chunk.

Die „Einheit“ der ersten Stufe ist eine undifferenzierte Häufung von Elementen, die keinerlei Strukturbildung aufweist und somit auch keine hierarchische Tiefenstaffelung zeigt. Die Einheit der vierten Stufe ist ein differenziertes Holon/Chunk mit einem hohen Maß an Strukturbildung und somit hierarchischer Tiefenstaffelung. Eine Entwicklung von einem unstrukturierten Haufen zu einem strukturierten Holon verläuft über die beiden Prinzipien Differenzierung (Aufdeckung der Teile und ihrer Unterteile) und Integration (Zusammenfassung von Teilen zu Gruppen und Einordnung dieser in übergeordnete Strukturzusammenhänge).[14] Bezogen auf die innere Wahrnehmungswelt eines Menschen kann man sagen, dass sich der gesamte Prozess vom Vorbewussten (Stufe 1) über das zunehmend Bewusste (Stufe 2) zum Bewussten (Stufe 3 und 4) erstreckt.

Sinn dieser Bündelung von Informationen ist es, das Bewusstsein in der Vielzahl seiner Aufgaben zu entlasten. Es muss nur an der jeweils obersten hierarchischen Ebene eines Chunks ansetzen, um die gesamte in diesem Chunk gespeicherte Information zu aktivieren. Im Falle des oben zitierten Beispiels wäre dies die Kadenz, genauer gesagt: die innere Repräsentation des Prinzips einer Kadenz. Sobald der Spieler den Entschluss gefasst hat, eine C-Dur-Kadenz zu spielen, sobald also das Chunk Kadenz vom Spieler aktiviert ist, werden alle hierarchisch tieferen Ebenen (Akkordaufbau, Einzeltöne) mit aktiviert – immer unter der Voraussetzung, dass der Spieler sie so bewusst und genau wie möglich eingeübt hat. Doch die Teile eines Chunks werden nicht nur mit aktiviert, sie folgen darüber hinaus auch der „Bewegung“ der hierarchisch höchsten Ebene. Um das gesamte Musiziersystem zu navigieren, braucht der Spieler mit seinen Steuerimpulsen also nur an den jeweils höchstrangigen hierarchischen Ebenen anzusetzen. Die Teile folgen dem Ganzen. Umgekehrt gilt: Dem Ganzen sind in seinem autonomen Handlungsspielraum Grenzen gesetzt durch die jeweiligen Möglichkeiten der Teile. Die Qualität einer Musizierhandlung ist abhängig von der Qualität der involvierten Teile – womit hier ein durch Üben stattfindender körperlicher, emotionaler und kognitiver Bewusstwerdungsprozess gemeint ist, der sich auf alle Teile sowie eine entsprechende „Verankerung“ von Bewusstheit in die jeweils bearbeitete Spielhandlung bezieht. Die Entwicklung der Elemente im Hinblick auf ihre individuelle Qualität und ihre soziale Vernetzung ist Voraussetzung für eine Entwicklung des Ganzen. Das Ganze entwickelt sich, indem es immer mehr hierarchische Ebenen ausbildet. Je größer die hierarchische Tiefenstaffelung der gebildeten aktiven Chunks ist, d. h. je mehr Ebenen und somit Teile integriert sind, desto differenzierter und umfassender ist das Musizieren und desto leichter fällt dem Musiker sein künstlerisches Tun.

Da der Begriff der Hierarchie die strukturelle Ordnung eines Holons nicht exakt wiedergibt, kreierte Koestler auch den Begriff der Holarchie. Eine Holarchie stellt eine Synthese der beiden Konzepte von hierarchischer Ordnung und Ordnung durch Bildung eines Netzwerkes dar. Folgende Abbildungen veranschaulichen diese drei Arten systeminterner Ordnung:

 



 

Abb. 9: Hierarchie [BV 389_Doerne_Abb. 9]

 

Obwohl eine Hierarchie unterschiedliche Ebenen hervorbringt, erzeugt sie doch kein Ganzes im Sinne einer übergeordneten Einheit: Die einzelnen Teile existieren nebeneinander. Steuerungsimpulse verlaufen ausschließlich in einer Richtung, nämlich von hierarchisch höher stehenden zu hierarchisch niedrigeren Ebenen. Innerhalb einer Ebene herrscht kein wechselseitiger Austausch. Eine Hierarchie ist also eine gestufte Organisationsform, mit monologischen Kommunikationsstrukturen, die in Bezug auf die gegenseitige Beeinflussung der Ebenen untereinander nur Abwärtskausalität zulässt.

 

 



Abb. 10: Netzwerk [BV 389_Doerne_Abb. 10]

 

Ein Netzwerk bringt weder unterschiedliche Ebenen hervor, noch erzeugt es ein übergeordnetes Ganzes: Die Teile existieren nebeneinander. Es bestehen jedoch Steuerungsimpulse von jedem einzelnen Teil zu jedem anderen Teil, die in beiden Richtungen verlaufen. Zwischen allen Teilen kann so ein wechselseitiger Austausch stattfinden. Ein Netzwerk ist also eine ungestufte Organisationsform, mit dialogischen Kommunikationsstrukturen, die nach dem Prinzip qualitativer Gleichwertigkeit aller Teile funktioniert.

 

 



Abb. 11: Holarchie [BV 309_Doerne_Abb. 11]

 

Eine Holarchie bringt unterschiedliche Ebenen hervor, die ineinander geschachtelt sind und so verschieden umfassende Ganze erzeugen: Die Ganzheit der einen Ebene ist Teil der höherrangigen Ebene usw. Teile unterschiedlicher Ebenen existieren ineinander, Teile einer Ebene existieren nebeneinander. Sowohl zwischen den Teilen innerhalb einer Ebene als auch
zwischen den Ebenen bestehen wechselseitige Steuerungsimpulse, die einen Informationsfluss in beide Richtungen zulassen. Eine Holarchie ist also eine gestufte Organisationsform, mit dialogischen Kommunikationsstrukturen, die zwischen den Ebenen Abwärts- und Aufwärtskausalitäten zulässt und zwischen den Teilen einer Ebene wechselseitigen Informations­austausch ermöglicht.

Es ist anzunehmen, dass dieses grundlegende Prinzip der Bildung und Entwicklung von Chunks/Holons als Strategie zur Bewältigung von Komplexität nicht nur in einigen speziellen Fällen gilt – beispielsweise dem Spielen einer Kadenz –, sondern dass es den gesamten Vorgang des Musizierens in jedem Augenblick prägt. Entsprechend der weiter oben gemachten Aufteilung des Musizierens in unterschiedliche Dimensionen, sähe ein holarchisches Modell des Musizierens wie folgt aus:[15]

 



 

Abb. 12: Die Holarchie des Musizierens [BV 389_Doerne_Abb. 12]

 

Beim realen Musizieren bilden sich nun innerhalb dieses Gesamtsystems unterschiedlich ge­staltete, verschieden komplexe holarchische Organisationsmuster aus. Im Vergleich zu feststehenden, meist hierarchischen Organisationsmustern, wie sie beispielsweise beim Mobile zu beobachten sind, weisen sie jedoch einen entscheidenden Unterschied auf: Sie sind wandelbar. Ein Element, das in Bezug auf andere Elemente die Funktion des holarchisch übergeordneten Ganzen übernommen hat, kann schon im nächsten Augenblick zum holarchisch untergeordneten Teil werden, wenn es die Situation in musikalischer oder spieltechnischer Hinsicht erfordert. Entscheidend dafür ist die Tatsache, dass sowohl zwischen den Elementen als auch zwischen den Ebenen ein direkter, in beide Richtungen offener Kommunikationskanal besteht, damit Informationen und Steuerungsimpulse unmittelbar fließen können und nicht auf Vermittlung durch Dritte angewiesen sind. Ist diese Voraussetzung erfüllt und wird sie vom System auch genutzt, entsteht eine flexible Organisationsstruktur, deren spezifische Ausprägung sich in Abhängigkeit zu den aktuellen musikalischen und instrumentaltechnischen Anforderungen der jeweiligen Musiziersituation verändert. Die holarchische Struktur und somit die interne Ordnung des Systemganzen ist von ihrer Anlage her also flexibel und situationsabhängig. Ein solches innersystemisches Organisationsprinzip bezeichne ich im Folgenden als fluktuierend holarchisch.

Ein Beispiel: Das ablesende Spielen von geschriebenen Noten aktiviert vor allem die wahrnehmungsbezogene Dimension des Musizierens und hier insbesondere den Modus „äußeres Sehen“. Es ist das im Bewusstseinsraum des Musikers im Vordergrund stehende Element, weil es den Großteil der Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Als in diesem Augenblick holarchisch übergeordnetes Element hat das äußere Sehen die Aufgabe, das Gesamtsystem zu navigieren, d. h. alle anderen Dimensionen und Elemente zu aktivieren, zu instruieren und mit „musikalischem Input“ zu versehen (Abwärtskausalität). Sobald der Austausch von Informationen zwischen den Ebenen und den Elementen in Gang gekommen ist – was bei geübten Musikern schon im Bruchteil einer Sekunde der Fall sein kann – stehen sie über Rückkopplungsprozesse miteinander in Wechselwirkung. Entsprechend wird dann auch das Sehen wiederum von holarchisch untergeordneten Ebenen beeinflusst, indem es Steuerungsimpulse nicht nur sendet, sondern auch empfängt (Aufwärtskausalität). Solange jedoch die gesendeten Steuerungsimpulse für die Navigation des Gesamtsystems wichtiger sind als die empfangenen, behält es seine Rolle als „Führungsebene“ bei. Taucht nun im Notentext eine Stelle mit großer rhythmischer Prägnanz auf, die zudem vom Spieler schnell überschaut und als musikalisch und spieltechnisch einfach empfunden wird, kann plötzlich die körperliche Dimension an Stelle des äußeren Sehens (des Notenlesens) zur holarchisch übergeordneten Ebene werden und die Führungsrolle über das gesamte System übernehmen. Die interne Holarchiestruktur hat sich verändert: Das äußere Sehen tritt zurück und wird zu einem Teil des Ganzen, das in diesem Augenblick von der holarchisch höher stehenden Ebene der Bewegungsvorstellung – vielleicht sogar einer realen Tanzbewegung mit dem Instrument – geleitet und instruiert wird. Die körperliche Dimension ist in diesem Moment im Bewusstsein des Musikers vordergründig präsent. Von ihr gehen die entscheidenden musikalischen Gestaltungsimpulse aus. Als in diesem Augenblick holarchisch untergeordnete Bestandteile (Subholons) folgen alle anderen Ebenen und Elemente den vom Körper vorgegebenen Steuerungsimpulsen.

Der Wechsel von einer Holarchiestruktur zu einer anderen ist dann besonders auffällig, wenn er mit deutlichen Veränderungen in der Musik einhergeht, wie beispielsweise dem Beginn eines neuen kompositorischen Abschnitts, der Änderung von Tempo oder Taktart, oder der Präsentation eines neuen musikalischen Charakters. Diese durch Kopplung an den grobstrukturellen Verlauf der gespielten Musik leicht nachvollziehbaren Wechsel stellen jedoch nur einen Teil der gesamten Wechselaktivitäten dar. Ein lebendiges, vielfältig ausdifferenziertes und in der Weite seines Bezugs umfassendes Musizieren passt seine interne holarchische Organisationsstruktur in jedem Augenblick der jeweiligen musikalischen Situation an. So wie der Klang einer gespielten Musik sich in der Zeit ständig verändert, so verändert sich das gesamte System in jedem Augenblick, weil es mit der Musik „mitschwingt“. Selbst bei relativ gleich bleibender interner Organisation der Elemente im Zusammenhang mit dem Spiel, beispielsweise einer stetig dahin fließenden, kontrastarmen Passage, befindet sich die Organisationsstruktur des Gesamtsystems doch permanent in einem Zustand subtiler Fluktuation.[16] Ist diese Bewegung innerhalb des gesamten Systems nicht mehr vorhanden, mit anderen Worten: verfestigt sich eine bestimmte Holarchiestruktur zu einem unveränderbaren Organisationsmuster und bleibt abgekoppelt von der musikalischen Situation mit ihren instrumentalen Anforderungen bestehen, wirkt sich dies negativ auf das Klangergebnis aus. Die in der Musik sowohl im Großen wie auch im Kleinen enthaltene Differenziertheit kann dann nicht mehr bestmöglich wiedergegeben werden, weil jedes klanglich darzustellende Element einer Musik eine entsprechende individuelle Organisation des Systems erfordert. Je größer daher die Variabilität und Fluktuationsbereitschaft der internen Organisation des Musizierens ist, umso differenzierter und ausdrucksstärker kann das Klangergebnis geraten.

Im Rahmen dieser ständigen Fluktuation der Organisationsstruktur gibt es jedoch ein Element im Gesamtsystem des Musizierens, das unveränderlich von zentraler Bedeutung ist und jederzeit bestimmend auf das System einwirkt: das Hören. Seine übergeordnete Stellung leitet sich natürlicherweise aus der Tatsache ab, dass das Produkt einer Musizierhandlung Klang ist. Es tritt antizipativ als Klangvorstellung bzw. Klangwillen und reaktiv als Klangwahrnehmung in Erscheinung. Je umfassender es ist, d. h. je mehr andere Ebenen und Elemente ihm holarchisch untergeordnet sind, desto besser ist das Musizierergebnis, denn eine vom Hören initiierte und gesteuerte musikalische Äußerung ist die vollkommenste Form des Musizierens.

Es lässt sich also feststellen, dass situativ gesehen der im Bewusstseinsraum eines Musikers jeweils vordergründig präsente Aspekt das Gesamtsystem des Musizierens organisiert. Dies kann beispielsweise sein:

  • das innere Sehen,
  • das innere Fühlen,
  • die Lust an der instrumentalen Spielbewegung,
  • der Impuls zur Kommunikation,
  • die in die Gegenwart geholte, aktuell vom Musiker erlebte Geschichtlichkeit der gespielten Musik,
  • der emotionale Zustand des Musikers etc.

All diese Aspekte erscheinen bei einem gelungenen Musizieren jedoch immer eingebettet in die ihnen übergeordnete holarchische Ebene des Hörens. Global betrachtet, organisiert also das Hören über Antizipation (imaginäres Hören, Hörerwartung, Klangvorstellung) und Rückkopplung (äußeres Hören der realen Klangereignisse) das Gesamtsystem.

Weil das System des Musizierens einen derartig hohen Komplexitätsgrad aufweist und zudem die interne Organisationsstruktur ständig fluktuiert, muss angenommen werden, dass der Großteil an Kommunikations- und Organisationsprozessen dezentral und eigenständig abläuft. Dieses Prinzip wird in der Systemwissenschaft als Selbstregulation bzw. Selbstorganisation bezeichnet. Voraussetzung für das Entstehen von Selbstorganisation ist eine innersystemische Dynamik durch Fluktuation sowie eine ausreichende Menge an Rückkopplungsmechanismen, die das System mit Informationen über sich selbst versorgen.

In diesem Sinne ist auch der am Musizieren beteiligte Musiker nicht allein Gestaltender, sondern zu einem großen Teil auch Gestalteter: Die Kunst des Musizierens erfordert ein Zulassen des Gestaltet-Werdens durch den musikalischen Zusammenhang in dem das Musizieren im Augenblick stattfindet. Das gilt sowohl für musikalische Gedanken und Vorstellungen wie auch für körperliche Spielbewegungen. Volker Biesenbender schreibt:


Wir werden z. B. oft recht ungemütlich darauf hingewiesen, daß wir – auf welchem Niveau auch immer – ständig viel zu viel ‚arbeiten‘, weil wir es nicht gelernt haben, auf diese innere Instanz zu horchen, die viele Spielabläufe auch ohne unser bewußtes Zutun regelt. Andererseits werden wir mit ein wenig Improvisationspraxis bald spüren, wie der Organismus eine natürliche Tendenz hat, sich für jede Aufgabe im Sinne größtmöglicher Leichtigkeit selbst zu ordnen.[17]


Heinrich Jacoby hat dasselbe im Sinn, wenn er schreibt:


Jeder wirklich klaren Vorstellung folgt der Bewegungsablauf, der nötig ist, um das Vorgestellte selbstverständlich und ungestört zu äußern.[18]


Diese „klare Vorstellung“, von der Jacoby schreibt, ist jedoch häufig selbst ein Ergebnis unbewusster Prozesse, von Klangahnungen und -visionen, die aus der Auseinandersetzung mit einer Musik wie von selbst entstehen. Indem ein Mensch sich ernsthaft auf eine Musik einlässt und diese mit Hilfe eines Instruments klanglich umsetzt, beginnt ein Prozess, der nie ganz, sondern nur zu einem Teil vom Willen des Musikers gesteuert wird. Der andere Teil besteht aus Selbstorganisationsprozessen.



[1] Claus C. Schnorrenberger: Grundsätzliches zur Diagnostik und Therapie, in: Erster Europäischer Ärztekongress für Musiker-Medizin, Freiburg 1994, S. 20

[2] Christoph Richter: Anregungen zum Nachdenken über das eigene Tun, a. a. O., S. 68

[3] Thomas Metzinger: Einleitung: Das Problem des Bewusstseins, in: Ders. (Hrsg.): Bewusstsein – Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie, Paderborn 52005, S. 46

[4] Frederik Vester: Neuland des Denkens – Vom technokratischen zum kybernetischen Zeitalter, Stuttgart 1980, S. 27

[5] Paul Watzlawik/Janet H. Beavin/Don D. Jackson: Menschliche Kommunikation – Formen, Störungen, Paradoxien, Bern 1969/1990, S. 119

[6] Ludwig von Bertalanffy: General System Theory, New York 1969, S. 54

[7] Claus C. Schnorrenberger: Grundsätzliches zur Diagnostik und Therapie, a. a. O., S. 24f.; Vgl. dazu auch die Äußerungen von Moshé Feldenkrais, der als Physiker, Verhaltenphysiologe und Körperpädagoge die unter Musikern äußerst populäre, sowohl zur Vermeidung von körperlichen Verspannungen als auch zur Steigerung künstlerischer Ausdrucksfähigkeit angewandte Feldenkrais-Methode begründete: „Haltung, Sinnesempfindung, Gefühl, Denken sowie auch die chemischen und hormonalen Prozesse bilden in jedem gegebenen Augenblick ein einziges Ganzes, das nicht in seine verschiedenen Teile zerlegt werden kann. Mag dieses Ganze noch so zusammengesetzt und kompliziert sein: es ist das integrierte Ganze des Systems in jedem Augenblick.“ Moshé Feldenkrais: Bewusstheit durch Bewegung, a. a. O., S. 65

[8] Auch der Instrumentaldidaktiker Anselm Ernst stellt in Bezug auf die Vielfalt von Bereichen des Instrumentallernens fest, „dass die Lernfelder sich aus unserer abendländischen Musikkultur ableiten. Diese stellt ein zusammenhängendes Ganzes mit Systemcharakter dar. Folglich sind auch die Lernfelder vielfach miteinander verflochten und bilden eine Art Lehrsystem.“ Anselm Ernst: Lehren und Lernen im Instrumentalunterricht, Mainz 1999, S. 44

[9] Vgl. Frederic Vester: Neuland des Denkens, a. a. O., S. 40f.

[10] Vgl. George A. Miller: The Magical Number Seven, Plus or Minus Two: Some Limits on our Capacity for Processing Information, in: Psychological Review Nr. 63, 1956, S. 81–97

[11] Zum Prinzip des Chunking in Bezug auf das Musizieren vgl. J. A. Sloboda: The Musical Mind, Oxford 1985, S. 4ff.

[12] Francis Schneider: Üben – was ist das eigentlich?, Aarau 1992, Abschnitt 8

[13] Arthur Koestler: Jenseits von Atomismus und Holismus – Der Begriff des Holons, in: A. Koestler/J. R. Smythies (Hrsg.): Das neue Menschenbild – Die Revolutionierung der Wissenschaft vom Leben, Wien 1970, S. 196f.

[14] Zum Prinzip von Differenzierung und Integration im Hinblick auf das Musizieren vgl. die Ausführungen bei Juliane Ribke: Elementare Musikerziehung – Persönlichkeitsbildung als musikerzieherisches Konzept, Regensburg 1995, S. 48–52

[15] Verbindungen zwischen Elementen derselben holarchischen Ebene sind mit gestrichelten Pfeilen gekennzeichnet, jene zwischen den Ebenen mit durchgezogenen Pfeilen. Aufgrund besserer Übersichtlichkeit sind die Elemente der Dimensionen (die unterste, zahlenmäßig größte Holarchieebene) mit jeweils nur zwei schwarzen Punkten wiedergegeben. Die in der Menge variable Anzahl der Ebenen ist aus demselben Grund auf drei begrenzt.

[16] Der Ursprung dieser Fluktuationsbewegung ist eine permanente Veränderungsbereitschaft des Systems. Man kann auch von einer alles Mögliche und Unmögliche zulassenden geistigen Offenheit sprechen. Dieser Geisteszustand weist eine große Ähnlichkeit mit dem von Uhde/Wieland bezeichneten „Zustand Null“ auf, den sie als wichtigste Voraussetzung für ästhetisches Handeln postulieren.

[17] Volker Biesenbender: Wie viel ‚Kreatur‘ braucht’s eigentlich zum Kreativsein? – Vom improvisierenden Umgang mit Musik, in: Üben & Musizieren Heft 3 (1995), S. 10

[18] Heinrich Jacoby: Jenseits von ‚Musikalisch‘ und ‚Unmusikalisch‘, a. a. O., S. 46



Andreas Doerne